Kritik: "Wiener Blut" an der Volksoper

Kritik: "Wiener Blut" an der Volksoper
Regisseur Thomas Enzinger seziert den Mythos "Wiener Blut" und zugleich die Wiener Seele.

Sekt und Semmeln, Bier und Brötchen, und das alles gratis - Direktor Robert Meyer weiß, wie man das Publikum der Volksoper perfekt auf die neue Saison einstimmt, wie man schon im Vorfeld einer Premiere gute Laune verbreitet. Eine schöne, längst zur Tradition gewordene Geste im Haus am Gürtel, die auch dem "Wiener Blut" sehr guttut. Genau mit jenem "Wiener Blut" nämlich, der nach dem Tod von Johann Strauß 1899 uraufgeführten Operette, ist die Volksoper in die neue Spielzeit gestartet und hat gezeigt: Ja, es geht. Man kann Operette heutig, modern und dennoch werkgetreu auf die Bühne bringen.

Psychoanalyse

Verantwortlich dafür ist Regisseur Thomas Enzinger, der den Mythos "Wiener Blut" und zugleich die Wiener Seele seziert. Enzinger siedelt die Geschichte rund um den notorisch untreuen Balduin Graf Zedlau sowie dreier Paare, die letztlich zueinanderfinden, in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts an. Da tänzelt Sigmund Freud durch die Reihen, notiert sich die Neurosen. Gustav Klimt malt, Alt-Österreich wird durch Sisi und Franz Joseph repräsentiert. Jedes Wien-Klischee - hier wird's Ereignis und großartig persifliert. Von Mozart bis Falco - Enzinger lässt nichts aus. Und auch Schani Strauß steigt von seinem Denkmal-Sockel, nimmt die Fidel in die Hand, geigt fröhlich auf und lässt den Flachmann munter kreisen.

Vogel-Strauß

Das alles ist klug, witzig, bunt, böse und zudem herrlich anzuschauen (Ausstattung: Toto); allein die überdimensionierten Sträuße (samt Gartenlauben-Eiern) im dritten Akt sind ein genialer Einfall. Und Enzinger rückt die Operette auch in die Nähe zu Nestroy, er schaut den Wienern aufs sprichwörtliche Maul, entlarvt das gar nicht goldene Wiener Herz als mörderische Schlangengrube. Kompliment. Warum so viel über die Inszenierung und so wenig über die Sänger? Ganz einfach: Die musikalische Seite kann mit der
szenischen nicht mithalten. Das liegt aber nicht an Dirigent Alfred Eschwé, dem groß aufspielenden Orchester samt gut einstudiertem Chor - sie kennen und können "ihren" Johann Strauß.

Wiener Dialekt

Auch Boris Eder als brillanter, Nestroy'scher Diener Josef und Wolfgang Böck als wienerisch lautmalender Kagler treffen den richtigen Tonfall. Gerhard Ernst als Fiakerkutscher macht da des Guten fast zu viel. Gernot Kranners Ausrufer - er führt durch einen Schnitzler-Liebesreigen - ist ideal. Gesungen aber wird auf mäßigem Niveau. Kristiane Kaiser ist eine passable, etwas wortundeutliche Gräfin, Renée Schüttengruber eine allzu piepsige Probiermamsell, und Sieglinde Feldhofer darf als Tänzerin Cagliari an der Grenze zur (leider auch vokalen) Hysterie wandeln. Schön, dass wenigstens Thomas Blondelle als Balduin Zedlau mit tenoralem Schmelz und Höhen punkten kann, dass Carlo Hartmann einen soliden Fürsten gibt. Das "Wiener Blut" im Jahr 2011 - es köchelt am Gürtel stimmlich auf etwas kleiner Flamme.

Fazit: Szenisch sehr gut und sehr klug

Werk: Die Operette "Wiener Blut" wurde nach dem Tod von Strauß 1899 uraufgeführt. Adolf Müller hatte mit Einverständnis des Komponisten diverse Strauß-Melodien zu einem Stück verpackt.
Regie: Heutig, bunt, böse, analytisch, sehr gescheit.
Dirigat: Tadellos, spritzig.
Gesang: Nestroy lässt hier grüßen. Oft allzu mäßig.

KURIER-Wertung: **** (von *****)

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