"Das war durch das liberale Amerika zugedeckt"
Wer glaubt, dass die zeitgenössische Orchestermusik frei von Sex, Fleisch, Politik und Leben ist, kennt Georg Friedrich Haas nicht.
Der österreichische Komponist hat jüngst abseits seiner viel gelobten Musik mit zwei Aufsehen erregenden Bekenntnissen auch international Wellen geschlagen. Zuerst hat sich Haas, Träger des Großen Österreichischen Staatspreises, zur Form seiner Sexualität bekannt: Er führt mit seiner Frau, Mollena Williams-Haas, eine sadomasochistische Beziehung, in der er der Dominante ist, wie er dem Onlinemagazin VAN und der New York Times erzählte.
Williams-Haas nennt ihren Mann "Herr Meister".
Und jüngst nahm Haas in der Zeit Stellung zur nationalsozialistischen Verblendung, die seine Familie beherrschte – und mit der er gebrochen hat. "Aus Scham habe ich jahrzehntelang darüber geschwiegen", sagte er.
Haas lebt in New York, wo er zuerst Schutz in der Anonymität suchte, um seine Sexualität zu erkunden. Im Interview spricht Haas über Missverständnisse rund um SM, die Alltagsangst der Schwarzen – und seine neue Freiheit in New York.
KURIER: Haben Sie Angst, dass das New York, in das Sie gegangen sind, nun ein anderes wird?
Georg Friedrich Haas: New York ist wahrscheinlich gleich geblieben. Und was den Rest betrifft: Was da jetzt an die Oberfläche kommt, ist im Grunde genommen immer da gewesen. Wenn ich in der Nacht alleine durch eine Straße in New York gehe, habe ich Angst vor Ganoven. Wenn meine Frau alleine durch New York geht, fürchtet sie sich vor der Polizei. Wenn wir gemeinsam auf der Straße gehen, ist es uns mehrmals passiert, dass alte afroamerikanische Frauen uns ansprechen und sagen: "Es ist so wunderbar, dass ihr beisammen seid." Ich dachte mir immer: Na ja, lieb. Aber wissen Sie, seit wann solche Beziehungen erlaubt sind? Seit 1967. Es ist noch so viel da, das durch das liberale Amerika zugedeckt war. Und das schwappt jetzt wieder hoch.
Wie haben Sie die Wahl erlebt?
Als ich die erste Diskussion zwischen Clinton und ihrem Widersacher gehört habe, war ich hinterher frustriert: Clinton kann diesen Menschen nichts anbieten, die Trump wählen.
Es geht wohl um die weißen, ländlichen, armen und ungebildeten, Amerikaner.
Das wird man sich noch genau anschauen müssen. Aber Bernie Sanders hätte Trump etwas entgegensetzen können. Clinton nicht. Ein Punkt, der auch für Österreich zutrifft. Wie hoffnungslos die Situation für viele Menschen ist! Die Parteien haben darin versagt, die Sinnfrage für die Menschen zu beantworten. Ich fürchte mich vor den Auswirkungen auf die österreichischen Wahlen.
Inwiefern?
Als ich das erste Mal – damals lebte ich schon in den USA – hier auf einem Plakat "Die soziale Heimatpartei" sah, lief es mir eiskalt über den Rücken.
Sie haben zuletzt sehr offen über die NS-Vergangenheit Ihrer Familie gesprochen. Wie waren die Reaktionen? Haben Sie Ihre Offenheit bereut?
Bis jetzt habe ich sehr wenig Reaktionen bekommen, aber die meisten waren positiv. Es wäre verwunderlich, würde ich es bereuen. Ich bin sehr isoliert aufgewachsen, ich wurde indoktriniert und von anderen Kindern ferngehalten. Und es ist sehr wichtig, das auszusprechen, denn es gibt sehr viele Menschen, die ebenfalls betroffen sind. Was ich als besonderes Geschenk empfinde: Ich habe noch keinen Opfer-Nachkommen getroffen, der auf mich negativ reagiert hätte.
Und nach den Artikeln, in denen Sie über Ihre Sexualität Auskunft gegeben haben?
Da gab es natürlich, no na, Reaktionen (lacht). Damit habe ich gerechnet. Es gab Feedback von ganz, ganz vielen Menschen, die in einer ähnlichen Situation leben wie wir, für die das unglaublich wichtig ist. Einmal kam eine wildfremde Frau zu uns und bedankte sich: Nach dem Artikel hat ihre Mutter sie angerufen und gesagt: Jetzt verstehe ich dich. Die unangenehmen Dinge, die vor allem in deutschsprachigen Zeitschriften standen, gehen von einer Vorstellung von SM aus, die mit der Realität überhaupt nichts zu tun hat.
Welche denn?
Die Vorstellung, ein Masochist ist jemand, der beim Zahnarzt Lustgefühle hat, ist vollkommen falsch. Das sind Menschen, die Endorphine, die der Körper beim Schmerzempfinden produziert, mit einem Minimum an Schmerz herausbringen wollen. Sadist zu sein heißt, in liebevollem Umgang auf den anderen Menschen einzugehen und ihm das zu ermöglichen. Das verlangt großes Einfühlungsvermögen. Und so eine Beziehung zu finden ist schwierig. Meine Frau sagt: Sie hat 17 Jahre lang gesucht, um mich zu finden.
Sie erleben ja derzeit eine Schaffensblüte, die mit Ihrer Offenheit zusammenhängt.
Ich muss jetzt keine Zeit mehr damit vergeuden, gegen mich zu kämpfen. Und auch nicht damit, innere Monologe mit meinem Großvater zu führen. Das ist ein Akt der Befreiung. Und dadurch, dass meine Frau submissiv ist und erotische Gefühle erlebt, wenn sie Dienstleistungen macht, verändert sie als Muse mein Leben. Es wird mir alles abgenommen. Ich nütze diesen Freiraum zum Komponieren.
Ihre Offenheit über Ihre Sexualität war auch insofern erstaunlich, als man die Neue Musik sonst wenig mit Körperlichkeit und Leben assoziiert; sondern mehr mit Kopf und Theorie.
Wenn das so ist, freue ich mich. Aber ich möchte auch widersprechen: Neue Musik hat sehr viel mit Submissivität zu tun. Wenn Musiker sich einer komplexen und schwierigen Partitur unterwerfen, um an unmöglichen Stellen unmögliche Tonhöhen zu spielen, ist das submissiv. Dieses kollektive Sich-Unterwerfen erreicht etwas Spirituelles bei den Menschen, die zuhören. Wenn Bernstein die Wiener Philharmoniker dirigierte, war das eine Master-Slave-Beziehung. Und da entstand etwas Wunderbares.
Hat die Beziehung zwischen Dirigent und Orchester auch etwas Politisches – etwa bei Dirigenten, die stolz darauf waren, Diktatoren zu sein?
Karajan, Furtwängler und Thielemann sind nicht die Leute, die mich interessieren.
Kommentare