Kenneth Lonergan: "Das Leben wartet nicht auf uns"

Casey Affleck in "Manchester by the Sea"
Kenneth Lonergan hat mit "Manchester by the Sea" ein tief empfundenes Familienporträt mit einem brillanten Casey Affleck in der Hauptrolle gedreht. Seither ist er Oscar-Favorit.

Kenneth Lonergan hat erst drei Filme gemacht. Trotzdem zählt er in Hollywood zu den heiß gehandelten Kreativen. Mit seinem Erfolgsdrehbuch zu dem Robert-De-Niro-Hit "Reine Nervensache" (1999) staubte er Millionengewinne ab. Sein erstes Drama "You Can Count On Me" (2000) mit Laura Linney und Mark Ruffalo räumte in Sundance den Großen Preis der Jury ab und wurde für den Golden Globe und den Oscar nominiert. Es folgte "Margaret" – ein Post- 9/11-Drama –, das Lonergan in einen langen Rechtsstreit mit dem Produzenten verwickelte und in eine tiefe Krise stürzte.

So gesehen ist "Manchester by the Sea" (derzeit im Kino) , das letztes Jahr die Viennale eröffnete und Lonergan nach Wien und ins Freud-Museum lockte, sein Comebackfilm. Die Idee zu "Manchester by the Sea" stammte ursprüngliche von Matt Damon und seinem Schauspielkollegen John Krasinski. Lonergan sollte das Drehbuch über einen Mann schreiben, der Jahre nach einer persönlichen Katastrophe zurück in seine Heimatstadt in Massachusetts kehrt und dort nach dem Tod seines Bruders die Vormundschaft für seinen Neffen übernehmen soll. Damon war von Lonergans Buch so begeistert, dass er ihm gleich die Regie übertrug; die Hauptfigur wollte er selbst spielen, überließ sie aber aus Termingründen Casey Affleck, kleinem Bruder von Ben, und sensationell gut in der Rolle. Seit seinem Erscheinen wird "Manchester by the Sea", ein brillant erzähltes, erschütterndes Familienporträt als Oscar-Favorit gehandelt.

Ein Gespräch mit Kenneth Lonergan über Komik im Drama und eine Welt, die nicht macht, was wir wollen.

KURIER:Herr Lonergan, Sie haben einen Kurzauftritt in " Manchester by the Sea", bei dem Sie als Passant Ihre beiden Hauptdarsteller anbrüllen. Sind Sie ein strenger Regisseur?

Kenneth Lonergan: Nein, ich bin sehr nett (grinst). Ich wollte unbedingt eine kleine Rolle übernehmen, und es kamen nur drei infrage. Eine davon habe ich dann Matthew Broderick gegeben – den wollte ich nicht für so einen Kurzauftritt verschwenden.

Es fällt auf, dass in Ihren Filmen Traumata immer eine große Rolle spielen. Was hat Sie an dieser Geschichte im Speziellen interessiert?

Ich fand die Ausgangssituation einfach sehr stark. Mir gefiel die Idee, von einem Mann zu erzählen, der in seinem Leben einen unglaublichen Verlust erlitten hat. Wie lebt er weiter? Wie kommt er durch seinen Tag, wie funktioniert er? Und wie kann er trotzdem noch Verpflichtungen übernehmen, wo er doch seinen eigenen Schmerz kaum aushält?

In manchen traumatischen Momenten verzichten Sie auf Sprache und spielen stattdessen Musik – weil das Leid unaussprechlich ist?

Kenneth Lonergan" "="">Das kommt darauf an, was mir in der jeweiligen Situation am wahrhaftigsten erscheint. Manchmal sind es ganz triviale Sache: Wie weit ist das Bestattungsinstitut von der Schule entfernt? Wer übernachtet in welchem Bett? Dann wieder lassen sich Gefühle besser abstrakt ausdrücken, wie etwa durch Musik oder Bilder in Zeitlupe.

Casey Affleck ist hervorragend als leidgeprüfter Familienvater Lee Chandler. Welche Regieanweisungen haben Sie gegeben?

Er hat großartige Arbeit geleistet, denn es ist eine Sache, sich eine Figur auszudenken, aber eine andere, sie zu spielen. Wir haben gemeinsam versucht, möglichst viele Details seines Lebens zu kennen. Wir haben uns zum Beispiel überlegt, wie er sich verhält, wenn ihm eine Frau gefällt? Ich habe mir kurz überlegt, ihm eine Art Sexleben zu verpassen, habe es dann aber verworfen. Jemand wie er lässt niemand an sich heran. Es gibt beispielsweise eine Szene, in der ihn eine Frau zum Essen einladen will. Und er ist sehr nett zu ihr und bemüht sich, aber er schafft es nicht, die Kluft zu überwinden. Wir haben diese Szene vier mal gedreht und immer wieder neue Aspekte gesucht, weil Casey die Situation einfach ganz genau ausloten wollte.

Manchmal entsteht in der entsetzlichsten Situation grausame Komik – etwa wenn die verletzte Michelle Williams (als Chandlers Frau) auf einer Bahre in den Krankenwagen geschoben werden soll und die Trage immer wieder aufklappt.

Das sind genau die Dinge, die in solchen Situationen geschehen: Man hat gerade eine große Streitszene mit seiner Frau und will dramatisch den Raum verlassen – und dann klemmt die Tür. Die Welt macht einfach nicht das, was wir wollen (lacht). Die Sache mit der Tragbahre, die immer aufklappt, ist während des Drehs übrigens wirklich passiert. Ich wusste gleich, dass ich die Szene verwenden werde, denn solche Missgeschicke sind für einen immer Film gut.

Sie setzen oft großes Drama neben Banales: Chandler unterschreibt einen lebenswichtigen Vertrag, sein Anwalt checkt beiläufig das Smartphone.

Ja, weil ich finde, dass genau solche Details unserer Realität entsprechen und einen Film lebendig machen. Das Leben bleibt nicht stehen und wartet auf uns. Es fokussiert sich nicht nur auf uns, sondern auf alle gleichzeitig,

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