Kate Tempest: Schlaflos durch London

Kate Tempest bei einem Bier in einem Pub in London.
Die sprachgewaltige Rap-Poetin mit ihrem zweiten Album "Let Them Eat Chaos".

Kate Tempest geht gerne spazieren. Vor allem nachts, wenn London ein bisschen zur Ruhe gekommen ist. Es ist auf die Sekunde genau 4.18 Uhr in der Früh, als die Rapperin, Lyrikerin und Autorin durch ihre Gegend zieht und fremden Menschen mit ihren Beobachtungen ganz nahe kommt. Die Eindrücke ihrer nächtlichen Spaziergänge bilden dann auch das Grundgerüst ihres neuen Albums "Let Them Eat Chaos". Darauf porträtiert die 30-jährige Britin in sieben Songs sieben Menschen, die allesamt nicht schlafen können.

Sie heißen Gemma, Esther, Alicia, Pete, Bradley, Zoe und Pious. Manche haben gut bezahlte Jobs, manche sind arbeitslos, manche sind sogenannte "Working Poor" – also armutsgefährdet trotz Vollzeitbeschäftigung. Was sie verbindet, ist der Umstand, dass sie sich tagtäglich am Leben abarbeiten und an Schlaflosigkeit leiden – wachgehalten von einem Cocktail aus Zukunftsängsten, Alkohol und Überarbeitung.

Poetin

Kate Tempest, die eigentlich Kate Esther Calvert heißt, machte sich bereits als Teenager in der Londoner Poetry-Slam-Szene einen Namen. Wöchentlich stand sie auf kleinen Open-Mic-Bühnen und zeigte den Mitstreitern im Publikum, wo der Barthel den Most holt. Das war einmal, jetzt rappt Tempest in großen Hallen über Motive, die sie seit Jahren beschäftigen. Es sind Sozialstudien über junge Menschen, die sich nach Geborgenheit, nach Zugehörigkeit sehnen und ihren Platz in der Gesellschaft einfach nicht finden können. Ihre Existenzängste schlucken sie mit bunten Stimmungsaufhellern hinunter oder pulverisieren sie mit künstlichem Selbstvertrauen, das sie in die Nase hochziehen.

Es sind die Loser, die Vergessenen und die Verlierer der Globalisierung, denen Kate Tempest eine Stimme verleiht. Ihre Sätze sind als Anklage gegen das politische System zu verstehen, gegen die Obrigkeit, gegen die soziale Ungleichheit, gegen die Schwerverdiener in der City of London, gegen die herzlosen Mitmenschen oder sich selbst, weil man die Widerwärtigkeiten immer noch mitträgt. Das Problem: Das Hamsterrad sieht von innen aus wie eine Karriereleiter.

Das sind die Themen, die sich wie ein roter Faden durch Kate Tempests Werke ziehen. Ihre feinsinnigen wie rührenden Gesellschaftsstudien sind Stoff für Theaterproduktionen, füllen Lyrikbände und Romane – nachzulesen in ihrem kürzlich auf Deutsch erschienenen Debütroman "Worauf du dich verlassen kannst" (Rowohlt).

Europa ist verloren

Auf "Let Them Eat Chaos" funktionieren die Songs noch um einen Tick besser als auf ihrem bereits tollen Debüt "Everybody Down" (2014). Das liegt am herausragenden musikalischen Grundgerüst, das ihr von ihrem Produzenten Dan Carey zur Seite gestellt wird. Es ist eine Mischform aus Hip-Hop, Trip-Hop und einem Rückblick auf die elektronische Musik der letzten 30 Jahre. Die Sounds sind klar wie kraftvoll. Die Bässe schleppen sich teilweise unmotiviert durch die Disco, dann gibt es Beats, die House anklingen lassen und Synthesizer, die gerne aus dem Muster ausbrechen. Zusammen mit den Texten entwickeln die Songs eine enorme Sogkraft.

Mit dem bereits 2015 als Single veröffentlichte "Europe Is Lost" hat sie vorhergesagt, was kürzlich mit dem Brexit eingetretenen ist. "England! England! Patriotism! And you wonder why kids want to die for religion?" Aus Kate Tempest sprudeln solche Sätze locker heraus, sie ist ein Quell der Kreativität, sprachlich enorm virtuos und schlagkräftig. Mit Kate Tempest geht man gerne spazieren – auch um 4.18 Uhr am Morgen.

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