"Die Welt darf ihre Augen nicht verschließen"
Viel wurde in den vergangenen Wochen über die Macht des Bildes gesprochen und geschrieben. Das Foto des dreijährigen Aylan, der am türkischen Strand nahe Bodrum leblos aufgefunden wurde, hat weltweit für große Bestürzung gesorgt.
Es wurden eine Reihe von Bildern gemacht. Der KURIER hat sich gegen die Großaufnahme des toten Kindes entschieden. Stattdessen wurde jenes veröffentlicht, das einen Polizisten mit dem Leichnam zeigt.
In beinahe allen Medien wurde ein Vergleich mit dem Foto des sogenannten Napalm-Mädchens (1972) gezogen. Der KURIER sprach mit dem Fotografen Nick Ut, der mit dem Bild der neunjährigen Phan Thị Kim Phúc die Gesellschaft aufrüttelte und zeigte, dass der Krieg in Vietnam nicht Halt vor Kindern macht.
KURIER: Herr Ut, haben Sie das Foto des dreijährigen Aylan gesehen?
Nick Ut: Ja, ich habe ein Bild gesehen, das einen kleinen Jungen zeigt, der nichts dafür kann, was gerade in der Welt passiert. Es ist ein trauriges Bild, aber auch ein tragisches, das die Macht hat, Menschen positiv zu beeinflussen.
Warum positiv?
Das Bild zeigt ein Kleinkind, das den höchsten Preis für Krieg und Hunger bezahlt hat, das Leben. Bedauerlicherweise leiden Kinder unter den Folgen von Konflikten am meisten. Und die Öffentlichkeit muss solche Fotos sehen, die Welt darf ihre Augen davor nicht verschließen.
Verstehe ich Sie richtig? Für Sie ist es in Ordnung, das Bild zu zeigen.
Eindeutig ja. Das Foto muss veröffentlicht werden. Es bestehen sehr große Ähnlichkeiten zu meinem Foto von Phan Thị Kim Phúc, das sogenannte Napalm-Mädchen. Solche Bilder dürfen der Bevölkerung nicht vorenthalten werden.
Was ich aber kritisch sehe, ist, wenn blutüberströmte Körper, abgetrennte Köpfe und Massengräber gezeigt werden. Diese Bilder sind zu plastisch und fügen nicht das Geringste hinzu, was man nicht auch mit Wörtern tun kann.
Warum ist es so wichtig, solche Fotos zu zeigen?
Fotos wie jenes aus Vietnam und das des dreijährigen Aylan haben einen subtilen Einfluss auf das Denken von Menschen. Sie können es auf eine positive Weise verändern. Das Foto von Phan Thị Kim Phúc hat mit Sicherheit einen kleinen Teil dazu beigetragen, dass der Vietnamkrieg beendet wurde. Die Öffentlichkeit war entsetzt, was dort drüben passiert und protestierte gegen den Krieg.
Können Sie sich noch daran erinnern, an was Sie gedacht haben, als Ihnen das nackte neunjährige Mädchen entgegenlief?
Ich wusste sofort, dass ich dieses Bild der Öffentlichkeit zeigen muss. Jeder soll sehen, dass der Krieg vor unschuldigen Menschen nicht Halt macht. Vor allem Kinder, die nicht wissen, warum Gewalt in ihrem Land herrscht, sind die Leidtragenden. Ich war mir sicher, mein Foto würde der Welt erzählen, wie schlecht der Krieg in Vietnam ist. Nur wenige Bilder können das, aber genau diese sind so extrem wichtig.
Viele Experten meinen, dass wir durch diese Vielzahl an Kriegsfotos abgestumpft seien. Was denken Sie?
Ich glaube nicht, dass unsere Fähigkeit, Schock, Mitleid und Angst zu empfinden, abgestumpft ist. Das Gegenteil ist der Fall. Fotos, die zeigen, wie Menschen leiden, was Krieg anrichtet, haben die Macht, uns zu informieren. Wenn uns etwas sprachlos macht, fehlen uns die Worte. Deswegen müssen solche Fotos der Welt gezeigt werden.
Zur Person
Huỳnh Công Út, besser bekannt als Nick Ut, wurde in Vietnam geboren und lebt heute in den USA. Er ist professioneller Fotograf für die Associated Press (AP) und war für selbige Agentur auch im Vietnamkrieg tätig. Dort machte er das berühmte Foto des neunjährigen MädchensPhan Thị Kim Phúc, das nackt aus einer Napalm-Wolke floh (8. Juni 1972). 1973 bekam Ut den Pulitzer Preis für seine Aufnahme der Neunjährigen. Das Foto gilt als Symbol für den Schrecken des Vietnamkrieges.
Der Fotograf steht noch heute in Kontakt mit Phan Thị Kim Phúc, die er zusammen mit anderen Kindern nach der Napalm-Attacke südvietnamesischer Einheiten in ein nahes Krankenhaus brachte.
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