"Ich, Daniel Blake": Episoden der Zertrümmerung

Dave Johns (li.) hat die Demütigungen am Sozialamt satt und protestiert: „Ich, Daniel Blake“
Ken Loach erzählt vom Scheitern am Sozialamt und erhielt dafür die Goldene Palme in Cannes.

"Marathon werde ich keinen mehr laufen", scherzt Daniel Blake, und: "Finger weg von Viagra!"

Die selbstironischen Scherze über den eigenen Gesundheitszustand legen nur eine hauchdünne Schicht von Humor über enorme Verzweiflung. Denn Daniel Blake, von Beruf Tischler, hat einen massiven Herzinfarkt hinter sich. Sowohl sein Arzt wie auch sein Physiotherapeut erteilen ihm striktes Arbeitsverbot; und zwingen ihn in die Abhängigkeit vom britischen Sozialsystem.

Allerdings erstellt auch das staatliche Sozialhilfeamt einen Befund: Blake muss sich durch ein 52 Seiten langes Antragsformular quälen und Herzinfarkt-ferne Fragen beantworten wie: "Können Sie einen Hut aufsetzen?"; "Können Sie einen Wecker stellen?" Oder: "Verlieren Sie jemals die Kontrolle über Ihre Darmentleerung?"

Danach wird er für arbeitstauglich erklärt.

Allein dieser Dialog zwischen dem sozialhilfesuchenden Blake und seiner "Gesundheitsdienstleisterin" ist von beinahe hysterischer Komik – wäre er nicht gleichzeitig auch unerträglich traurig. Wir bekommen ihn nur als Gespräch ohne Bild zu hören, im breitesten "Geordie"-Dialekt aus dem nordenglischen Newcastle. Und damit setzt Regisseur Ken Loach gleich zu Beginn gekonnt den tragisch-komischen Tonfall seiner Proletenpassion.

Der britische Meister des sozialkritischen Kinos erntete heuer mit "Ich, Daniel Blake" seine zweite Goldene Palme in Cannes (und schlug damit "Toni Erdmann" aus dem Feld). Seine arbeitssuchenden Männer und Frauen waten zwar knietief im Elend, doch überlässt Loach seine proletarischen Protagonisten keineswegs dem tristen Sozialdrama.

Stand-up-Comedian

Besonders der kahlköpfige Dave Johns – übrigens ein geübter Stand-up-Comedian – lässt sich als Daniel Blake lange nicht das Maul verbieten. Selbst als ihm die giftige Furie vom Arbeitsmarktservice mit existenzbedrohlichen Sanktionen droht, greift er in einem Anflug von anarchischer Lust zur Spraydose und verwandelt seinen Protest in knalliges Graffiti.

Das mittlerweile 80-jährige Herz von Ken Loach schlägt unerschütterlich links. Mit großer Emphase erzählt er aus dem Leben von arbeitswilligen Menschen, die aufgrund widriger Lebensumstände in den sozialen Abgrund stürzen. In seiner bestechend argumentierten Lesart ist das britische Sozialsystem eine bittere Farce, in der Anwärter auf Sozialleistungen systematisch so lange entmutigt werden, bis sie auf ihre Ansprüche verzichten.

So versteht es der gelernte Handwerker Blake zwar vortrefflich, filigrane Fische aus Holz zu schnitzen, doch ist er unfähig, Online-Formulare auszufüllen und seinen Lebenslauf auf dem Smartphone zu versenden.

Auch die alleinerziehende Katie, die Daniel mit ihren Kindern am Sozialhilfeamt kennenlernt, balanciert am Rand des Existenzminimums. Für sie als junge Frau verspricht Sexarbeit mehr Einkommen als Putzdienst.

Loach trennt einzelne Szenen durch Schwarzblenden voneinander und verwandelt sie dadurch zu Episoden der Zertrümmerung. Irgendwann kann auch der wackere Blake nicht mehr – und am Ende greift Loach doch recht tief ins Seifenfach.

Seine Helden hätten nicht ganz so goldene Herzen haben müssen, und wie unfair das Sozialsystem angelegt ist, hat man am Ende mehr als gut verstanden. Dennoch gelingt Loach ein scharfsichtiger Blick ins nunmehrige Brexit-Britannien. Mit trefflichem Witz und großem Gefühl erzählt er davon, wie schlecht es den Menschen dort geht – mit oder ohne EU.

INFO: GB/F/BL 2016. 100 Min. Von Ken Loach. Mit Dave Johns, Hayley Squires

KURIER-Wertung:

Am 20. April 2010 explodierte die Bohrplattform " Deepwater Horizon". Sie forderte elf Menschenleben, führte zur Ölpest im Golf von Mexiko und gilt bis heute als die schlimmste Umweltkatastrophe in den USA.

Anders formuliert: Die Geschichte von "Deepwater Horizon" geht schlecht aus. Und das weiß man von Anfang an.

Vielleicht ist das mit ein Grund, warum der effizient erzählte Big-Budget-Katastrophenthriller von Peter Berg an den US-Kinokassen so schlecht abschnitt. Und seine 110 Millionen Dollar Produktionsbudget bis jetzt kaum abdecken konnte.

Verdient hat er es jedenfalls nicht. "Deepwater Horizon" liefert schneidige Thrillerspannung (obwohl man meist kein Wort von dem, was gesprochen wird, versteht), kompakte Action und exquisite Explosionen.

Zügig lässt Berg die Schicksalsfäden seiner wichtigsten Protagonisten auf der Bohrplattform zusammenlaufen. Im Mittelpunkt der umsichtige Mark Wahlberg als Cheftechniker, der sich noch liebevoll von Frau und Kind verabschiedet, ehe er auf der Bohrinsel eincheckt. Kurt "Klapperschlange" Russell gibt mit Schnauzbart den bärbeißigen Mannschaftschef. Und John Malkovich, "The Man You Love To Hate", treibt als skrupelloser BP-Manager entgegen aller Vorsichtsmaßnahmen die Bohrungen voran.

Berg inszeniert die unter dem Bohrdruck ächzende und bebende Industrieanlage wie ein gurgelndes Monster, das sich zum tödlichen Angriff bereit macht. Effektvoll wird die Spannungsschraube angezogen: Ohne überzogenes Heldentum, aber emotional ergreifend, steuert der Ölschocker auf sein flammendes Inferno zu.

INFO: HK/USA 2016. 107 Min. Von Peter Berg. Mit Mark Wahlberg, Kurt Russell, John Malkovich.

KURIER-Wertung:

"Ich, Daniel Blake": Episoden der Zertrümmerung
Mark Wahlberg kämpft um sein Leben: "Deepwater Horizon"

Wenn Florence Foster Jenkins singt, klingt sie wie eine sterbende Katze. Hoch, schrill und falsch. Jeder kann es hören. Nur sie nicht. Florence Foster Jenkins hält sich für eine begnadete Sopranistin, und sie kann es sich leisten. Als Millionärin investiert sie ihr Geld in private Auftritte; und ihr Mann sorgt dafür, dass das Publikum weder in brüllendes Gelächter, noch in Schmerzensschreie ausbricht.

Florence Foster Jenkins gab es wirklich, und ihre schrägen Gesangskünste kann man sich auf YouTube anhören. In Stephen Frears konventionellem, aber berührend-witzigen Bio-Pic spielt Meryl Streep sie mit Gusto und routiniertem Gespür für tragische Komödie. Unschlagbar auch Hugh Grant als glückloser Shakespeare-Darsteller, der jeden Misston seiner Frau mit der Miene des echten Gentlemans erträgt. Richtig umwerfend jedoch ist Simon Helberg aus "The Big Bang Theory": Als Pianist, der Florence bei ihren Auftritten begleitet, stirbt er jedes Mal tausend Tode. Helbergs fassungsloser Gesichtsausdruck zwischen Ungläubigkeit und Verzweiflung ist jede Kinokarte wert.

INFO: GB 2016. 111 Min. Von Stephen Frears. Mit Meryl Streep, Hugh Grant, Simon Helberg.

KURIER-Wertung:

"Ich, Daniel Blake": Episoden der Zertrümmerung
Meryl Streep, Simon Helberg (Mitte) und Hugh Grant in "Florence Foster Jenkins"

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