Pessimismus, Luxus der Jugend

Den Makaberen nannte man ihn früher. Das ist Ian McEwan nicht mehr. Die Bosheit seiner Bücher ist feiner
Der britische Schriftsteller bei "Literatur im Nebel" über 40 Jahre Schreiben und seine Parodie auf Cormac McCarthy.

Einen Feigenbaum hat Ian McEwan bekommen. Eine spezielle Sorte, die es im rauen nördlichen Waldviertel aushält. Eine Tradition: Für jeden der Literaturstars, die bisher hier in Heidenreichstein zu Gast waren – etwa Amos Oz und Margaret Atwood – wurde ein Baum gepflanzt.

Doch die Erinnerung an sein Bäumchen ist nicht das einzige, das der britische Schriftsteller von diesem Wochenende mitnimmt. Zwei Tage standen er und sein Werk bei "Literatur im Nebel" im Zentrum. Schauspieler wie Tobias Moretti und Erwin Steinhauer lasen aus seinen Büchern und 700 Menschen lauschten. McEwan wird vielleicht so etwas wie Rührung mitnehmen. "Es tut Schriftstellern nicht unbedingt gut, so im Mittelpunkt zu stehen", sagt er, verlegen scherzend, auf der Bühne und wird danach, im Interview, nachdenklicher: Sein gesamtes Schaffen hier so konzentriert gehuldigt zu sehen, das erinnere ihn vor allem daran, wie schnell die Zeit vergeht: "Das letzte Mal, als ich ich mich so gefühlt habe, war, als mein Enkel geboren wurde. Es wird einem bewusst, wie kurz das Leben ist."

Ian, der Makabere

Seinen Roman "Der Zementgarten", den hat er vor fast 40 Jahren geschrieben. "Ich kann mich erinnern, als ich damit begann. Es ist, als wäre es erst zwei, drei Monate her. All meine Arbeit hier geballt zu erleben, quetscht die Jahre aneinander wie in einem zeitlosen Raum."

Pessimismus, Luxus der Jugend
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Das Schreiben selbst sei für ihn zum Zeitmesser geworden: Subjektive Zeit gegen gemessene Zeit, sagt McEwan, der erklärte Atheist. Er gilt als Meister der Psychologisierung des Erwachsenwerdens und als Analyst der Conditio Humana, der Beziehungen seziert, bis nichts mehr übrig bleibt.

Im Mittelpunkt seiner Bücher stehen oft gestörte Kinder. Die Abgründe der Jugend. Jugendliche, die, wie im frühen Meisterwerk "Der Zementgarten", die tote Mutter im Keller begraben.

Ian "McAbre", Ian den Makaberen, nannte man ihn einst. Dabei sei er selbst als Kind "konventionell" gewesen – ein Tagträumer, weiter nichts. Einer wie Peter Glück aus dem Roman "Tagträumer", der vor lauter Spintisieren die Wirklichkeit vergisst.

Die frühen, dunklen Kurzgeschichten seien Projekte seiner Jugend gewesen. "Ich habe schon vor dreißig Jahren eine Parodie auf Cormac McCarthy geschrieben", sagt er selbstironisch. Nachzulesen im vorletzten Buch "Honig", einem Geheimdienst-Roman, der autobiografische Züge hat: Der junge Schriftsteller, der porträtiert wird, ähnelt dem jungen McEwan, seine ersten Kurzgeschichten sind hier nachzulesen. "Ich hatte sie gar nicht so gut in Erinnerung", behauptet McEwan verschmitzt-kokett.

Das Projekt Mensch

Geändert hat sich die finstere Grundbefindlichkeit seiner Storys mit der Geburt seiner Kinder: "Als Junger konnte ich mir rücksichtslosen Pessimismus leisten. Die Vorstellung eines Nuklearkrieges. Doch wenn man Kinder hat, bekommt man eine neue Perspektive. Man stellt sich vor, dass es für das Projekt Mensch noch Heilung gibt."

Als junger Schriftsteller las er Marquèz und Cortazar, Handke und Camus. Seine Generation war geprägt vom Versuch, aus dem Schatten der übermächtigen Vorbilder der Modernität – Proust, Joyce – herauszutreten. Wie tat man das am besten? Mit einem handfesten Plot. Und diese Einstellung hat sich in einem halben Jahrhundert des Schreibens nicht geändert. Da ist er einer Meinung mit Henry James, der schrieb: "Die Hauptaufgabe des Romanciers ist es, interessant zu sein".

"So banal es klingt: Es ist schwierig für einen Leser, 25 Stunden mit einer Geschichte zu verbringen, die nicht spannend ist." Darüber muss er sich keine Sorgen machen. Die Story ist immer gut. Und gut recherchiert. Für "Saturday" hat McEwan zwei Jahre mit einem Gehirnchirurgen verbracht. Am Ende hätte er "die Operationen schon selbst durchführen können."

Zur Person: Die Weltbestseller

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (UK), erhielt 1998 für „Amsterdam“ den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis für das Gesamtwerk. Sein Roman „Abbitte“, vier Millionen Mal verkauft, wurde mit Keira Knightley verfilmt, der Film gewann einen Oscar. Insgesamt wurden sieben seiner Romane verfilmt.

Doch auch McEwan hat klein angefangen. „Vom ersten Buch verkaufte ich 1200, vom zweiten 2000. ,Liebeswahn’ war das erste, das gut ging.“ Zuletzt erschienen „Solar“ und „Honig“.

Das ganze menschliche Spektrum findet der literarische Seelenanalytiker Ian McEwan in seinem neuen Roman in und vor dem Gerichtssaal. "Kindeswohl" erzählt von Richterin Fiona Maye, die in einem dringenden Gerichtsfall entscheiden muss: Ein siebzehnjähriger Leukämiepatient braucht eine lebenswichtige Bluttransfusion, die seine Eltern, Zeugen Jehovas, ablehnen. Auch privat ist Fiona gefordert: Ihr Mann unterbreitet ihr nach dreißig Jahren Ehe, dass er vorhat, eine Affäre zu beginnen.

KURIER: Seit wann beschäftigen Sie sich mit Familienrecht?

Ian McEwan: Es begann mit einem Abendessen bei einem Familienrichter. Dort waren mehrere Richter, sie sprachen über ihre Fälle. Ich fand das faszinierend. Normalerweise kommt Stoff für Storys aus dem Strafrecht. Wir haben es mit Kriminellen zu tun, Mördern, Dieben und Opfern. Aber im Familienrecht gibt es die realen Dilemmas des Alltags, die dem Roman viel näher sind. Die Gerichte sind voll von Geschichten, die uns erzählen, was am Ende einer Liebe passiert. Und an diesem Abend, als ich mit meinem Richter-Freund und seinen Kollegen zusammensaß, sah ich das gesamte Erzähluniversum des 19. Jahrhunderts vor mir. Ich sah Anna Karenina, Madame Bovary, Balzac, Dickens. Es erschien mir unwiderstehlich!

'Kindeswohl': Ian McEwans jüngster Roman erscheint im Jänner auf Deutsch. Aus dem Englischen von Werner Schmitz.Diogenes. 224 S. 20.50€
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Sie beschreiben hier Menschen, deren Entscheidungen massiv in das Leben anderer eingreifen.

Normalerweise wird kein Gericht zulassen, dass ein Kind den religiösen Überzeugungen der Eltern geopfert wird. Das Gericht muss Religion respektieren, aber Entscheidungen treffen. Ich wollte meinen Figuren, auch den Eltern des Buben, ihre Würde lassen. Ansonsten wäre das ein Handbuch atheistischer Dogmen geworden. Aber es geht hier eigentlich um die Richterin, die bei anderen sehr, aber bei sich selbst wenig rational ist.

Es scheint, als bewegten sich ihre Entscheidungen als Familienrichterin oft zwischen dem größeren und dem kleineren Übel.

Nun, sie kann ja oder nein sagen, aber sie muss ihre Entscheidungen begründen.Das Familienrecht ist da sehr deutlich. Die Interessen des Kindes sind die Entscheidungsgrundlage. Das klingt wie ein Pleonasmus. Aber es heißt, dass die Eltern eben nicht die erste Überlegung sind, auch nicht deren Glaube. Und jedes Gericht wird, muss sagen: Es ist nicht im Interesse des Kindes, zu sterben. Die Frage ist immer: Gehört ein Kind seinen Eltern? Grundsätzlich ja, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Der Staat steht dazwischen. Und hier Entscheidungen zu treffen, ist schwierig. Wir hatten in England zuletzt horrible Fälle von Kindesmissbrauch. Da waren die Kinder nicht beschützt, denn ihre Fälle gelangten nie zu Gericht.

Fionas Mann Jack hat eine Affäre und will dafür ihren Sanktus. Hält er sich für ehrlicher als die Mehrheit der Paare, die betrügen und nicht darüber reden?

Ja, er hält sich für ehrlich. Aber Ehrlichkeit ist eben nicht immer schmerzlos. Seine Ehrlichkeit ist eine Frechheit. Ehrlichkeit ist sicher nicht die Lösung, sie bringt dich nur in eine Welt mit anderen Problemen. Unehrlichkeit ist eine Quelle vieler Probleme, aber Ehrlichkeit löst keine Probleme. Aus Fionas Sicht macht Jack ein Tauschgeschäft zwischen ihrem Unglück und seinem Glück. Das ist das, was man in der Psychologie "soziale Buchhaltung" nennt. Er aber denkt, er hat ein Recht auf diese Affäre, weil seine Frau kalt ist, sie gibt es sogar zu, sie zeigt ihm keine Gefühle mehr.

Jeder der beiden fühlt sich im Recht. Und eben das ist der Punkt: Es gibt so viele Probleme im Leben, die nicht so einfach zu lösen sind, in dem man eine Seite einnimmt. Am Ende ist der Kompromisse ein schwacher. Nichts ist gelöst. So ist es auch im Leben. Die wenigsten Probleme werden gelöst. Meistens werden sie einfach vergessen und das Leben geht weiter. Nur in Romanen werden Probleme gelöst.

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