Genussvoll traurig: Ein Song-Contest-Protokoll

Salvador Sobral, Song-Contest-Gewinner
Guido Tartarotti protokolliert seinen Song-Contest-Abend.
Vorrede

Der ESC ist ein freudvoller Bewerb. Er soll Spaß machen, Lebensfreude vermitteln, nicht zuletzt entwickelte er sich auch zu einem überdimensionalen, sehr sympathischen Werbeblock für Buntheit, Vielfalt, Gemeinsamkeit, Unfrisiertheit. (Das macht er wirklich toll. Leider wird nebenbei nicht selten auch gesungen.)

Das alles schließt nicht aus, dass der ESC außerdem in seiner quietschigen, aufgeregten Launebärigkeit auch ein wenig anstrengend sein kann, vor allem, wenn man ihn mit aufgedrehtem Ton anschaut. Folgende Zeilen betrachten den heurigen ESC mit Humor. Angeblich ist das ja sogar erlaubt.

Spaßgesellen

Das ukrainische Fernsehen zeigte sich human: Es ließ vor den Liedern drei dermaßen gnadenlos übermotivierte Spaßgesellen auf das Publikum los, dass die Musik danach einem gar nicht mehr so schlimm vorkam. Das Lustigste an den Moderatoren waren ihre Bärte – und dabei hatten zwei von ihnen nicht einmal einen. Und dann ging es schon los, und zwar mit

Israel.

Der singende Fitnesstrainer. Er singt eine Hymne auf seine Lieblingshantel, die seine Liebe nicht erwidert. Die Hantel trat ebenfalls bei der Vorausscheidung an und wurde ganz knapp Zweite.

Polen.

Sie ist bekleidet mit einem um drei Nummern zu kleinen BH und sonst nichts. Der Text handelt vom Traum ihres Busens, aus seinem Gefängnis auszubrechen und in die weite Welt zu wandern. Weil die ESC-Regeln dieses aber nicht gestatten, spielt ein extra engagierter Geiger dem Busen ein Lied davon, dass es zuhause auch schön ist.

Weißrussland.

Eine Premiere beim ESC, erstmals wird auf Weißrussisch gesungen, erklärt der Moderator. Das Lied heißt „Stay Out Of My Life“, was nur zufällig nach Englisch klingt, in Wahrheit bedeuten diese Worte, übersetzt aus dem Weißrussischen „Wir wissen auch nicht, warum wir auf einer Bühne stehen, die wie ein halbiertes Fischerboot aussieht und warum wir alle weiß tragen müssen, vielleicht, weil wir Weißrussen sind, keine Ahnung“. Nach dieser Logik dürften die Russen gar nichts tragen, das ist aber verboten, weswegen die Russen heuer gar nicht dabei sind.

Österreich.

Der beste Nathan Trent der Welt (mit dem dritt- oder viertbesten Nathan-Trent-Lied der Welt), und er ist so gnadenlos sympathisch, dass nur unbelehrbare Schufte darüber sprechen, dass er nicht jeden Ton ins Schwarze trifft.

Armenien.

Die Sängerin heißt Artsvik, was ein Fachausdrück für künstlerisch wertvolle Schwarzweißpornos ist, die bei der Biennale von Gjumri außerhalb des Bewerbs gezeigt werden, aber nur für Angehörige der Streitkräfte. Der Refrain des Liedes lautet „I-i-i-i-i-i-i“, was aus dem Armenischen übersetzt bedeutet: I-i-i-i-i-i-i“. Gehüllt ist sie in ein 200 Kilo schweres Kettenhemd aus Kruppstahl.

Niederlande.

Drei Schwestern. Leider nicht von Tschechow, denn bei dem wird nicht gesungen. Wobei: So hübsche „close harmonies“ hat man seit den Everly Brothers nicht mehr gehört. Wenn sie jetzt noch so etwas Ähnliches wie ein Lied hätten, würde das toll klingen.

Moldau.

Singende Brautsträuße plus ein Saxofon im Stimmbruch plus eine Ganzkörperhüfte. Der eine sieht wirklich genau so aus wie Ross Antony. Wer ist eigentlich Ross Antony?

Ungarn.

Ein Rom singt für Ungarn, und zwar einen kritischen Text – ein Beweis dafür, dass Orban sich nicht um alles kümmern kann. Der Sänger singt den Text nicht, sondern er schluckauft ihn, und begleitet sich dabei auf einer Milchkanne. Das mit Abstand merkwürdigste Stück des Abends – und ganz gewiss nicht das schlechteste!

Italien.

Er singt mit geschlossenen Augen (und trainierte dafür monatelang mit einem Jungschar-Leiter aus Modena). Im Backgroundchor singt die Crew des Raumschiffs Enterprise. Seine Stimme ist eine Halsentzündung von Adriano Celentano, für die dieser keine Verwendung mehr hatte. Sein Schnurrbart wohnte früher im Gesicht von Schoko Schachner, ist diesem aber entlaufen. Hat den besten tanzenden Gorilla des Abends im Programm. Aber auch den einzigen.

Dänemark.

Ihre Zahnlücke trägt ein rotes Kleid, und sie singt ausschließlich durch diese Zahnlücke. Das Lied ist ein wenig länglich, tatsächlich dauert es bis Silvester, daher gibt es am Ende ein Feuerwerk und hinter der Bühne dann ein Skispringen.

Portugal.

Sein Lied ist von der portugiesischen Volksmusik, vom Fado, inspiriert. (Manche sagen, Fado ist der einzige Musikstil, der so klingt, wie er heißt.) In Wahrheit ist der Fado die Kunst des genussvollen Traurigseins, und damit der österreichischen Seele sehr nahe.

Zu erleben war eine Frauenstimme in einem zappeligen Männerkörper, ein Lied, das völlig aus allen Rahmen und Schubläden fällt und von dem man seit Tagen wusste, dass es vollkommen zu Recht gewinnt. Ein sehr merkwürdiges, aber schönes Ereignis.

Aserbaidschan.

Ein sozialkritisches Lied über die demütigende Situation, dass man in der Schule an die Tafel muss, die Kreide aber von unsensiblen Mitschülern versteckt wurde, weswegen man jetzt traumatisiert ist und sich die Lippen schwarz schminken muss. Ein Mann trägt einen Pferdekopf und steht dabei auf einer Malerleiter, was natürlich symbolhaft gemeint ist und Solidarität mit all jenen signalisiert, deren Hobby es ist, mit einem Pferdekopf auf einer Malerleiter zu stehen, und die deshalb in der aserbaidschanischen Gesellschaft diskriminiert werden.

Kroatien.

Auf der einen Seite seines Körpers ist er der Pavarotti von Zagreb, auf der anderen ein Popsänger mit Frauenstimme, er singt mit sich selbst im Duett. Wirkt ein wenig anstrengend, wie ein Leider-nein-Kandidat von „Kroatien sucht den Superstar“. Hat angeblich schon ein Engagement: Verkörpert bei „Phantom der Oper“ im Stadttheater Zadar sowohl Phantom als auch Oper.

Australien.

Ein australischer Kinderstar, der sich mit gefälschtem Schülerausweis in die Halle geschmuggelt hat. Seine Kleidung wurde aus seinem eigenen Augenbrauenhaar gewoben. Ist als nächster Außenminister Australiens im Gespräch.

Griechenland.

Sie steht im Schneefall und hat wenig an – ein Symbol für die soziale Kälte sowie dafür, mit wenig an im Schneefall zu stehen. Mit diesem Lied bewirbt sich Griechenland gleichzeitig für die EM im FKK-Biathlon.

Spanien.

Jack Johnson aus Spanien. Singt über sein Surfbrett. Sein Surfbrett sang im Gegenzug über ihn, scheiterte aber in der Vorausscheidung. Und zwar an der Jury. Eine Jury überstimmte das Publikum und reihte ihn vor, das Ganze war sogar Thema im Parlament (der letzte Satz ist keine Satire, sondern die Wahrheit). Demnächst wird der spanische Peter Pilz einen Untersuchungsausschuss deswegen beantragen.

Norwegen.

Der Angriff der Kampfmönche nach dem Einlauf mit elektrischem Strom: Elektropop mit Maske und Sepplhut, mit dem ein Weltrekordversuch unternommen wird: Kann man in drei Minuten die Halle leerspielen und die weltweite Einschaltquote unter die Einwohnerzahl von Trondheim senken?

United Kingdom.

Sie demonstriert die fast vergessene Kunst des Song-Contest-Händeringens, die an einigen Universitäten Nordenglands noch gelehrt wird. Sie arbeitet im Zivilberuf als Händering-Trainerin für Brexit-kritische Politiker.

Zypern.

Der auf dem Strich ging. Das Lied heißt „Schwerkraft“ und klingt genau so.

Rumänien.

Eine jodelnde Sennerin und ihr verhaltensorigineller Knecht von den schneebedeckten Gipfeln der Bukarester Alpen singen „Heidi“ auf Rumänisch. Am Ende wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen, aber nicht getroffen.

Deutschland.

Die Sängerin ist über drei Meter groß, eigentlich wollte sie in Stöckelschuhen auftreten, dazu hätte man aber das Dach der Halle abreißen müssen. Das Lied selbst ist ein schöner Beweis dafür, dass die Deutschen doch Humor haben – dieser Ödbrei kann unmöglich ernst gemeint sein.

Ukraine.

Heavy Metal und ein meterhoher Kopf auf der Bühne. Insgesamt der sehr professionelle Versuch, auf keinen Fall noch einmal zu gewinnen.

Belgien.

Sie heißt Blanche, trägt aber Schwarz, was mich an eine schöne und noch dazu wahre Geschichte erinnert: In einem türkischen Ferienclub erscheint ein junger Mann ganz in Schwarz zur Fete Blanche. Als man ihn auf seinen Fehler aufmerksam macht – „blanche heißt weiß“ – entgegnet er: „Sorry, ich kann kein Türkisch.“

Für die Lichteffekte des Liedes musste ein neues Kernkraftwerk bei Lüttich gebaut werden. Das Lied ist ihr zu tief, sie müsste sich bücken, um die Töne aufzuheben, dazu aber ist ihr Kleid zu eng.

Schweden.

Slimfit-Anzug-Modeschau auf Fitnesscenter-Laufbändern. Der Sänger schafft es, zu singen, ohne den Mund zu bewegen. Laktosefreier Diätpop.

Bulgarien.

Der Viertplatzierte beim Justin-Bieber-Ähnlichkeitswettbewerb im Jugendzentrum Sofia Süd. Darf sich die Haare nicht schneiden, da in seiner Frisur eine bedrohte Vogelart nistet.

Frankreich.

Sie hat den Bus versäumt und weiß nicht, wann der nächste kommt, und darüber singt sie ein gar traurig Lied. Aber gleichzeitig ist es ein schönes Lied, vielleicht sogar das schönste, denn es war das letzte. Sie heißt übrigens Alma und ist die Schwester von Schärdinand.

Voting

Das Voting begann dann mit der üblichen Härte: Alle Beiträge noch einmal in endlosen „Schnelldurchläufen“. Die Berechnung der Punktevergabe (Jury? Telefonvoting? Würfeln?) wird übrigens nächstes Jahr bei der Mathematik-Zentralmatura als Beispiel gestellt.

Danke, Bulgarien, für 12 Punkte.

Danke an alle Jurysprecher, die auf die Formel „Thank you for an amazing evening“ verzichteten.

Zwei Punkte aus Deutschland. Also ca. drei mehr, als erwartet.

Übrigens zehn Punkte aus Portugal.

Am Ende dann wieder die Frage: Wieso inszeniert man mit den Jurypunkten ewig Spannung herbei, die man dann mit den Votingpunkten in Sekundenschnelle wieder entwertet? Und wieso wählen Jurys so vollkommen anders als die Zuschauer? (Österreich: 93 von den Jurys, 0 vom Publikum…)

Am Ende kam Nathan Trent dann auf den 16. Platz, und Portugal hatte eh gewonnen, Dank eines Elfmeters von Cristiano Ronaldo.

„Music is not fireworks, music is feeling“, lautete das Statement des Gewinners. Das stimmt, und man kann auch andere Wörter in die Gleichung einsetzen als „Musik“.

Der nackte Popo des Flitzers, der über die Bühne lief, bekam übrigens keine Punkte. Aber vielleicht singt er nächstes Jahr.

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