Geh, wohin dein Herz dich trägt - von Susanna Tamaro

Die Geschichte von vier Frauengenerationen erzählt Susanna Tamaro in einer schlichten und unsentimentalen Sprache. 1994 wurde dies zum Welterfolg.

Ja, dieses Buch schrammt seitenweise nur knapp am Kitsch vorbei. Ja, die meisten Männer werden mit der Lektüre wohl wenig anfangen können. Und ja, diese knapp 200 im Diogenes-Verlag erschienenen Seiten sind gefüllt mit tiefsinnigen Sprüchen und fernöstlichen Weisheiten, die an Märchenmystiker wie Paolo Coelho erinnern. Aber was macht das schon?

"Geh, wohin dein Herz dich trägt" berührt, lässt sich leicht, lustvoll und schnell lesen, mehr noch, lässt sich genießen. Vielleicht empfindet die Leserein (der Leser) die Lektüre nicht als ein Hauptgericht der Weltliteratur, bestimmt aber als lange nachklingende, leichte und wohlschmeckende Vorspeise. Susanna Tamaro - Großnichte des Autors Italo Svevo - verzaubert trotz aller eben nur rationaler Bedenken.

Die Italienerin erzählt die Geschichte von vier Frauengenerationen: Olga, achtzigjährig und nach einem Schlaganfall ihren Tod ahnend, schreibt ihrer Enkelin Marta einen langen Brief: "Du bist vor zwei Monaten abgereist", schreibt Olga und beginnt so eine Art Tagebuch, ein Vermächtnis für die nach Amerika gereiste Enkelin. Die alte Frau berichtet und richtet. Sie erzählt - für Marta, aber auch für sich selbst - von ihrer starren Jugend am Anfang des 20. Jahrhunderts, von ihrer in den Zwängen der Zeit eingesperrten Mutter, die "unbefriedigt und voller Groll" starb. Olga ist anders, ist neugierig und unangepasst. Erst spät heiratet sie, hofft auf einen Umbruch, einen Neuanfang. Doch ihr Ehemann Augusto entpuppt sich als wort- und gefühlskarger Insektensammler, so trocken wie seine Käfer. Liebe entdeckt sie erst Jahre später, als Affäre mit dem ebenfalls verheirateten Ernesto. Über Jahre hinweg treffen sie sich, Olga wird schließlich schwanger, kann aber die gesellschaftlichen Konventionen nicht überwinden: Sie lässt ihren Mann Augusto glauben, das Kind sei von ihm. Kurz nacheinander sterben die beiden Männer, Olga erzieht ihre Tochter Ilaria allein. Und verliert sie, als Ilaria während des Studiums nicht nur Bekanntschaft mit sozialistischen und feministischen Strömungen macht, sondern auch mit Drogen und diversen, nicht immer vertrauenserweckenden Männern. Auch Ilaria bekommt eine Tochter, verrät aber ihrer Mutter nie, wer der Vater ist. Sie gerät in die Fänge eines ausbeuterischen Psychologen, stirbt schließlich bei einem Autounfall. Und lässt ihre Tochter Marta zurück, die von Olga, der Großmutter, aufgenommen und erzogen wird. Für sie schreibt Olga schließlich diesen Brief, ohne ihn abzuschicken. Sie sehnt sich nach ihrer Enkelin, möchte aber nicht, dass Marta sich verpflichtet fühlt. Olgas Brief, ihr Tagebuch, soll das letzte Geschenk sein, das auf Marta wartet.

Die Geschichte von vier Frauengenerationen erzählt Susanna Tamaro in einer schlichten und unsentimentalen Sprache. Der jungen Autorin gelingt es überraschend souverän, aus der Perspektive einer 80-jährigen Protagonistin zu berichten - und glaubwürdig zu bleiben. Vier Frauen in fast hundert Jahren - von Olgas Mutter um 1900 bis zur Nichte Marta, die den Wechsel ins Jahr 2000 in Amerika erleben wird - werden von der Autorin so exemplarisch wie eindringlich gezeichnet.
"Geh, wohin dein Herz dich trägt" erschien 1994 und wurde rasch zum millionenfach verkauften Welterfolg. Tamaro, 1957 in Triest geboren und ab 1990 von Federico Fellini gefördert, schuf mit der Ich-Erzählerin Olga eine Figur von seltener Intensität. Diese besondere Nähe muss auch die Autorin nicht losgelassen haben: Mehr als zwölf Jahre später schrieb sie mit "Erhöre mein Flehen" eine Fortsetzung dieser Geschichte.

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