Flašar: Wie man aus fühlenden Augen schaut

Flašar: Wie man aus fühlenden Augen schaut
Zwei fielen aus dem Rahmen. Jetzt sitzen sie im Park. Es ist ein japanischer Park. Aber in Schönbrunn könnte es auch bald passieren.

Es geht also doch noch: Ein Manuskript kam nach Berlin, die Autorin – in St. Pölten geboren – fügte hinzu, sie möchte sich weiterentwickeln ...
Nun ist der Wagenbach Verlag nicht unbedingt ein Entwicklungshelfer, und deutschsprachige Literatur bringt er mittlerweile ganz selten.

Lieber Italiener (Sciascia, Murgia, Camilleri). Lieber die die Schottin A.L. Kennedy. Lieber Alan Bennett aus London. Aber nach den ersten fünf Sätzen wollten alle im Verlag weiterlesen: "Ich nannte ihn Krawatte. Der Name gefiel ihm. Er brachte ihn zum Lachen.
Rotgraue Streifen an seiner Brust. So will ich ihn in Erinnerung behalten."

Der 81-jährige Klaus Wagenbach hatte wie immer das letzte Wort: "Oh, ein Talent." Das hatte er bei einem deutschen Text zuletzt vor neun Jahren gesagt.

Parkbank

Fasst man Milena Michiko Flašars Roman "Ich nannte ihn Krawatte" kurz zusammen, könnte man Leser vertreiben. Das wäre sehr schade.
Da sitzen zwei Männer – einer 20, der andere auf die 60 zugehend – auf einer Parkbank und reden übers Leben.
Der Ältere lehrt den Jüngeren, "aus fühlenden Augen zu schauen."

Die 31-jährige Autorin hat eine japanische Mutter. Die Parkbank steht in Japan. Das passt zum Stil, der mit wenigen Worten Personen ausführlich charakterisiert und mehrere große Geschichten erzählt.
Freilich könnten die Männer auch in Schönbrunn sitzen. Bloß sind Hikikomori dort (noch) nicht so bekannt.
Als Hikikomori werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich weigern, das Haus ihrer Eltern zu verlassen, sich in ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt mit der Familie aufs Allernötigste reduzieren.
Der Grund?
Leistungs- und Anpassungsdruck. "Man schätzt, dass bis zu 300.000 zumeist Junge betroffen sind."

Dienstschluss

Flašar: Wie man aus fühlenden Augen schaut

Der Ich-Erzähler ist ein Hikikomori, der sich nach zwei Jahren immerhin in den Park vor dem Haus traut. Er wird sich, täglich ein bisschen mehr, jenem Mann öffnen, der ebenfalls dort sitzt: "Krawatte".

Ein einfacher Angestellter, Bote vielleicht, der seinen Job verloren hat, weil er nicht mehr so toll funktionierte. Vor seiner Frau hält er es geheim. Deshalb wartet er auf dem Bankerl bis nach Dienstschluss.

Eine der Zeit entsprechende Mischung: Einer kann nicht mehr wie früher, der andere will nicht können.
Warum hatte sich der Junge denn verkrochen? Aus Angst, ein noch größerer, ein erwachsener A... zu werden.
In der Schule trug er nämlich die coole Maske und schaute lässig weg, als seine Freundin aus Kindheitstagen wegen ihrer Armut tödlich gemobbt wurde.

Also, jetzt dürfte es klar sein. Da ist viel mehr los als bloß "Zwei sitzen im Park und plaudern miteinander". Ruhig fließend steuert der Roman auf Dramen zu. Ist er am Ziel angelangt, will man jeden berühren, solange er noch unter uns ist.
Und alle, alle möchte man umarmen – inklusive Milena Michiko Flašar, die wie "ihr" Hikikomori aus dem Schatten gesprungen ist.

Peter Pisa

KURIER-Wertung: ***** von *****

Die Autorin empfiehlt: Auf einen Matcha Latte ins Cha No Ma

Mein erster Tipp: "Nokan – Die Kunst des Ausklangs ". Ein berührender Film über das Sterben, der sowohl Tragisches als auch Komisches in sich vereint. Man kann weinen und lachen und beides zugleich. Ein sehr lebendiger Film, obwohl oder weil er vom Tod handelt. (Den Oscar-gekrönten Film gibt es auf DVD.)

Zweiter Tipp: Das "Cha No Ma" in der Faulmanng. 7, 1040 Wien. Hier gibt es leckeren Matcha Latte (grüner Tee in Pulverform mit geschäumter Milch) und Reisbällchen mit verschiedenen Füllungen. Die ideale Erfrischung für zwischendurch.

Und Tipp Nummer drei: Keiji Nakazawas "Barfuss durch Hiroshima" – ein Manga-Klassiker, der die Geschichte eines Überlebenden erzählt. Bewegende Bilder, die sich dem Betrachter einprägen als Bilder gegen Krieg und Gewalt. Ein Buch voller Hoffnung.
(Dieser japanische Comic, im Verlag der Süddeutschen Zeitung erschienen, kostet 15,40 Euro und ist Auftakt einer Serie.)

Stewart O’Nan – "Emily, allein" schockiert allein durchs Alltägliche

Flašar: Wie man aus fühlenden Augen schaut

Fast immer ist es dramatisch, wenn übers Alter geschrieben wird; und wenn es um einen Mann geht, wird er bestimmt von einer jungen Frau geritten ...
Mit Emily aus Pittsburgh, Pennsylvania, ist es anders. Sie ist 80 und lebt mit ihrem arthritischen Hund Rufus.
Kann man sich, als männlicher Leser an die eigene Zukunft denkend, statt Emily einen Emil vorstellen? Der würde wahrscheinlich nicht so oft Kleenex-Tücher nachfüllen. Und: Würde ein Emil zu jedem Anlass Karten an Sohn, Tochter, Enkelkinder schicken?

Gemeinsam könnte sein: Man steht im Klo, das Papier ist aufgebraucht, man wirft irrtümlich die Stange der Halterung in den Mist und hält die leere Rolle fest.

"Emily, allein" ist der ganz gewöhnliche Alltag, der bevorsteht. Der aufs Unspektakuläre spezialisierte Amerikaner Stewart O’Nan hat ihn beschrieben. In allen Details. Für Unruhige sind es zu viele Details.

Er erzählt mit Gelassenheit von der Riesengemeinheit, alt zu sein. Alles verändert sich rundherum. Muss denn das sein? O’Nan ist beim Schreiben sehr auf Emilys Würde bedacht.
Sie genehmigt sich einstweilen ein Glas Wein, legt Bach in den CD-Player, gießt Blumen und streichelt den Hund.

Aber sie muss auch auf Begräbnisse gehen. Freundinnen sterben. Und sie ist hautnah dabei, als ihre Schwägerin im Restaurant umkippt, die schrecklichen Laute "Aaah, laaah!" rufend.

Emily trat schon in O’Nans Roman "Abschied von Chautauqua" (2002) auf. Damals war sie eben Witwe geworden. Sie lässt sich auch jetzt nicht gehen, kauft sich ein neues Auto, fährt los, verlässt die Routine.
Es gibt also Hoffnung.
Wenngleich der Roman gerade durch seine Banalitäten ein Schock ist. Andererseits: Die schockieren ja auch mit 20, 30, 40 ... 

Peter Pisa

KURIER-Wertung: ***** von *****

Klemens Renoldner – Warum "Lilys Ungeduld" ihren Tod bedeutete

Flašar: Wie man aus fühlenden Augen schaut

Architekt Sebastian Zinnwald bekommt Besuch von seiner Tochter. Er hat Veronika seit zwölf Jahren nicht gesehen. Wollte nicht, seit sich seine jüngere Tochter Lily von einer Brücke in den Tod gestürzt hat. Er zog sich nach dem Selbstmord der 24-Jährigen zurück, verwilderte zusehends. Jetzt bittet er Veronika zum Gespräch über die Vergangenheit. Die Begegnung gestaltet sich schwierig, die Fronten sind verhärtet, beide voll Selbstgerechtigkeit.

Das klingt bis hierher nicht sehr spannend, und trotzdem wird die mühsame Annäherung, die sich nach dem Prinzip "ein Schritt nach vorne, zwei Schritte zurück" gestaltet, zum "Pageturner". Man will den großen Familienfragen, die um das "Warum" des Selbstmordes kreisen, nachgehen. Klemens Renolder initiiert aus dem mageren Handlungsstrang, der per se nur aus Veronikas Fahrt zum Vater und ihrem Aufenthalt in seinem Bauernhaus besteht, nach und nach die Substanz der komplexen Familiengeschichte. Ohne aufdringliche Volten zu schlagen, wird die Erzählung mit Hinte rgründen angereichert, bis man "Lilys Ungeduld" versteht.

Der 1953 in Schärding geborene Renoldner studierte Literatur und Musik. Was man ankreiden kann: dass Renoldner viel weiß und (zu) viel in den Roman hineinpackt. Malerei, Musik, Kulinarik: Sebastian Zinnwald kennt sich aus. Das kann zäh sein. Stupend ist Renoldners Genauigkeit. Etwa, wenn er sprachliche Unschärfen, vermeintlich Poesie, humorvoll aufs Korn nimmt: Eine Nebenfigur verwendet das Wort "Samtkuss": "Wie die Erfahrung lehrt, können uns die Sinneseindrücke belügen, aber wir glauben die Wörter zu verstehen: Samt und Kuss. Über ihre interaktive Verknüpfung wird noch zu reden sein."

Barbara Mader

KURIER-Wertung: **** von *****

Parker Bilal –

Flašar: Wie man aus fühlenden Augen schaut

Auf dem Nil steht ein Floß mit Wänden aus Sperrholz; der Detektiv Makana, der hier lebt, weiß nie, ob er am nächsten Morgen schon bei den Fischen ist.

Nah am Untergang wie das Hausboot ist Ägypten, und vom Sudan reden wir jetzt lieber nicht. Von dort musste Makana flüchten. Er war Kriminalkommissar, aber die Islamisten wollten die Gebildeten ungestört foltern und umbringen. Da war er im Weg. Seine Frau – eine Biologin, die an der Universität Darwins Lehre erklärte – und die Tochter starben auf der Flucht.

Jetzt vegetiert Makana in Kairo. Ein Telefon hat er nur, um es klingeln zu lassen. Er schaut lieber auf den Fluss.

Der Krimi, vom sudanesischen Autor Jamal Mahjoub unter dem Pseudonym Bilal geschrieben, erhebt sich aus der Masse. Er spielt kurz nach dem Anschlag von Luxor 1997. Das Kind einer Touristin verschwindet. Ein Fußballstar verschwindet. Welcher Gauner hat mehr Geld, um Polizei und Regierung zu bestechen? Kairos Straßen sind dunkel – das steht im Titel. Aber die dichte Atmosphäre entsteht nicht durch Eigenschaftswörter. Sollte eine Serie werden ...

Peter Pisa

KURIER-Wertung: **** von *****

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