Filme, die unser Leben kosten

Wie wir mit unserer Sucht nach online teilbaren Ereignissen reale Erfahrungen entwerten.

Christine Lagarde wurde vom Forbes- Magazin im Jahr 2015 auf Platz sechs der mächtigsten Frauen der Welt eingestuft. Zwei Jahre später hielt sie ihr Smartphone wie ein Teenie aus der Opernball-Loge, um das elegante Treiben auf Kamera zu bannen.

Das macht die Chefin des Internationalen Währungsfonds zu einer ebenso banalen wie beruhigend durchschnittlichen Erscheinung: Die Menschen weigern sich zusehends, die Realität außerhalb ihrer Smartphones und sozialen Netzwerke wahrzunehmen. Damit einher geht der Impuls, alles zu fotografieren, zu filmen und zu posten oder an das eigene Netzwerk zu verschicken.

Vom Alltäglichen (Essen) bis zum Besonderen, ein Konzert zum Beispiel. Oder der Opernball. Die Zahl der gereckten Arme mit teuren Smartphones stand am Ball der Republik in besonders starkem Kontrast zur eigentlich staubtrockenen Etikette: Wehe, Sie lassen sich mit Armbanduhr oder einem Mascherl in schwarzer Farbe erwischen. Wenn aber "Alles Walzer" gerufen wird, zückt auch die IWF-Chefin das Handy. Was sollen wir Normalos dann anders machen?

Pop- und Rockkonzerte etwa sind schon seit Jahren Opferraum der Lichtverschmutzung durch die Mitmenschen: Wer sein Handy in die Höhe hält, um Justin Bieber oder die Eagles of Deathmetal zu fotografieren, sagt damit noch nichts über den eigenen Musikgeschmack aus. Aber viel über das Gefühl der Anwesenheit bei einem konkreten Ereignis.

Diese Weigerung, ein Erlebnis als solches zu akzeptieren, wenn nicht das eigene, stets in der Hosentasche mitgeführte Netzwerk aus der Ferne applaudiert, führt unweigerlich zu Seelenzuständen wie Frustration und Stress. Ein gelungener Moment wird zunehmend schwerer allein erlebt. Wofür fand das alles statt, wenn nicht das Netzwerk uns die Einordnung (meist in Flughöhe von "LOL", "Nice" oder einem simplen "Daumen hoch") abnimmt?

Graue Verschubmasse

Die Momente, die wir nicht teilen, werden zusehends ausgeblendete, graue Verschubmasse zwischen den Highlights unserer Tage.

Wie sehr sich diese Abwertung unserer Faulheits- und Ruhephasen und der durchschnittlichen, aber nicht öffentlich verwertbaren Stunden des Lebens auswirkt, wird wohl schon bald Gegenstand psychosozialer Versuchsanordnungen sein.

Aber was passiert mit all den Bildern, die wir kraft unserer digitalen Existenz Tag für Tag veröffentlichen oder archivieren? Die Dienste, die uns freundlicherweise Speicherplatz oder Bühne bieten, tun dies nicht aus Altruismus, soviel ist sicher. Bild für Bild wird dort von Algorithmen sortiert, analysiert, bewertet und monetarisierbar gemacht: Daten als neuer Rohstoff werden auch aus der optischen Ebene extrahiert – natürlich! Wie privat wir uns auch unseren Devices nähern mögen – hier bleibt nichts mehr geheim. Wenn auch dieser Umstand derzeit noch den Anschein der Unsichtbarkeit hat.

Auslagerung

Zusehends wird zudem der Kulturgenuss auf Smartphones und Netzwerke ausgelagert. Karajan, 1987 in Salzburg? Streamen wir. In Video oder hochaufgelöstem Audioformat. Den Schlussapplaus im Konzerthaus halten wir wiederum selbst fest. (Als hätte das irgendeine Bedeutung.)

Die Oscars 2017 hatten einen eigentlich spektakulären Gag zu bieten, als eine nichts ahnende Touristengruppe ohne Vorwarnung plötzlich in den Saal der Oscar-Verleihung geführt wurde. Ein paar Leute, die sonst draußen über den Walk of Fame gestolpert wären, standen plötzlich echten Celebrities im Veranstaltungsort Dolby Theatre gegenüber. Die Touristen, allesamt vom Typus Joe Durchschnitt, zückten sofort ihre Handys und begannen zu filmen. Eine emotionale Reaktion war ihren Gesichtern schwer abzulesen. Dass sie verzweifelt mit dem Handy fokussierten, schon.

"Sie müssen nicht filmen – Sie SIND im Fernsehen", versuchte Moderator Jimmy Kimmel das groteske Verhalten dieser roboterartigen Figuren in eine Pointe zu verwandeln. Aber eigentlich war das Ganze mehr als peinlich. Dass Nicole Kidman vor ihnen saß, wurde durch das Handy begutachtet. "Das ist Ryan Gosling, schauen Sie nicht in seine Augen", scherzte Kimmel. Aber der Mann, dem er diesen Rat mitgab, blickte sowieso durch seine Handykamera.

Ein sicherer Ort vor solchen Umtrieben sind übrigens die Kinos, deren strikte Verfolgung von Raubkopierern auch den Einsatz von Smartphones verpönt hat.

Aber gerade die Filmbranche ist in einer tiefen Krise. Wir holen uns unser Entertainment hochaufgelöst auf unsere Devices. Und lassen uns dabei zuschauen.

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