Jagd nach der verlorenen Kunst

Der Kunstfund in München nährt Spekulationen um prominente vermisste Werke.

Es hat, erwartungsgemäß, nur wenige Tage gedauert: Der spektakuläre Kunstfund in München, wo 1406 Werke namhafter Künstler in einer Privatwohnung gefunden wurden, entfachte sofort wieder die Spekulationen rund um das Bernsteinzimmer.

Jagd nach der verlorenen Kunst
Der berühmte österreichische Komponist Franz Schubert am Klavier gemalt von Gustav Klimt im Jahre 1899 (Öl auf Leinwand). Das Gemälde wurde im Jahre 1945 im Schloß Immendorf verbrannt. // Famous Austrian composer Franz Schubert playing the piano, painted by Gustav Klimt in 1899 (oil on canvas). The painting was destroyed in a fire in Palais Immendorf in 1945.
Es ist ein Mythos, der in keiner Diskussion um verlorene Kunst fehlen darf: Die sagenumwobene, prächtige Innenraumausstattung, die im Katharinenpalast von Zarskoje Selo bei St. Petersburg mittlerweile nachgebildet wurde, gilt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges als verschollen, womöglich zerstört. Aber das glaubte man auch von vielen Werken, die nun in München wieder aufgetaucht sind: Sie, so sagte der Sammler Hildebrand Gurlitt einst aus, seien in Dresden verbrannt. Dass das nicht stimmt, wie man seit dem Auffliegen des Falls Gurlitt vor einer Woche weiß, ist nicht nur für diesen spektakulären Fall von Bedeutung.

Sondern auch Wasser auf den Mühlen von Erben verlorener und zerstörter Kunstwerke – und nicht zuletzt auch von Hobbyforschern, die sich Theorien zum Verbleib dieser Werke zusammengereimt haben. Denn nun kann man mit neuer Berechtigung darauf hoffen, das eine oder andere jener bis zu 200.000 Werke zu finden, die seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen sind. Darunter so prominente Bilder wie Gustav Klimts „Porträt der Trude Steiner“, Bellinis „Madonna mit Kind“ oder Raphaels „Porträt eines jungen Mannes“. Oder eben das Bernsteinzimmer.

Niederösterreich

Noch ist zum allergrößten Teil unklar, was in der Sammlung Gurlitt enthalten ist. Welche Werke aber gesucht werden, ist gut dokumentiert. Ein herber Verlust für die österreichische Kunstgeschichte ereignete sich etwa im Schloss Immendorf in Niederösterreich, das mit größter Wahrscheinlichkeit von den abziehenden SS-Truppen in Brand gesteckt wurde. Dort verbrannten 200 Werke (darunter 13 Gemälde) von Klimt, und weite Teile der Sammlung der Familie Lederer. Deren Erben haben kürzlich, unter großem medialen Aufsehen, Antrag auf Rückstellung des Beethovenfries gestellt. Unter den Verlusten von Immendorf waren die legendären Fakultätsbilder Klimts – Darstellungen von u. a. „Medizin“ und „Philosophie“, die den Festsaal der Uni Wien schmücken sollten, den Professoren aber zu wagemutig waren.

Raubgeschichte

Klar ist: Mit letzter Sicherheit lässt sich nie sagen, ob ein Kunstwerk zerstört wurde – oder ob es nicht doch zuvor beiseitegeschafft wurde. Besonders wilde Spekulationen gibt es über die 434 Meisterwerke aus der Berliner Gemäldegalerie, die im Flakbunker Friedrichshain in den letzten Stunden des Krieges einem mysteriösen Feuer zum Opfer gefallen sein sollen. Immerhin geht es um Werke u. a. von Rubens, Caravaggio und Tizian. Und immerhin sind andere Objekte, die im Bunker gelagert waren, nach dem Krieg wieder aufgetaucht. Auch hier ist durch den Fall Gurlitt neue Hoffnung aufgekommen.

Es sind Eckpfeiler einer Familiengeschichte, die sich nicht so recht zusammenfügen wollen – und die dadurch exemplarisch für die Tragödie des 20. Jahrhunderts in all ihrer Vielschichtigkeit stehen.

Hildebrand Gurlitt (1895–1956), der die immense, in München aufgefundene Kunstsammlung anhäufte, war Nazi-Günstling mit jüdischen Vorfahren. Er war, so wie sein Cousin Wolfgang Gurlitt (der später die Neue Galerie in Linz gründen sollte), ein früher Verfechter der Klassischen Moderne, der für deren Etablierung am Kunstmarkt der 1920er Jahre mitverantwortlich war. Der dann aber seine guten Kontakte nützte, um sich während des NS-Regimes selbst zu bereichern, auf Kosten öffentlicher Sammlungen und ohne Rücksicht auf die Herkunft der Werke.

Er war während der Nazidiktatur zuerst mit Arbeitsverbot belegt und dann einer der größten Profiteure und williger Vollstrecker der NS-Kunstpolitik: Er verkaufte im Namen der Nazis Werke der als „entartet“ geschmähten Klassischen Moderne und kassierte dafür eine Provision von zehn bis 25 Prozent. „Mit dem Verkauf und Tausch von Kunstwerken zumeist unklarer Provenienz baute sich Hildebrand Gurlitt ein erfolgreiches und gewinnbringendes Unternehmen auf“, schreibt etwa der Historiker Michael Wladika in einem Dossier. Und Hildebrand Gurlitt war durch diese Tätigkeit mitverantwortlich dafür, dass viele der Werke vor der Vernichtung gerettet wurden.

Engagement

Das künstlerische und kunsthistorische Engagement der Familie Gurlitt reicht zurück bis ins 19. Jahrhundert. Im 20. dann ist die Familie fest etabliert: Hildebrand Gurlitts Vater war Architekturprofessor in Dresden, sein Bruder erfolgreicher Dirigent und Komponist. Sein Cousin, Wolfgang Gurlitt, pflegte laut Wladika enge Freundschaften mit Alfred Kubin und Oskar Kokoschka.

Komplexe Familiengeschichte

Mit Beginn der NS-Diktatur änderte sich alles. Denn eine Großmutter der Gurlitts war jüdisch. Hildebrand Gurlitts Bruder versuchte sogar, seine Familienbande anzufechten, um nicht mit Arbeitsverbot belegt zu werden. Vergeblich.

Auch Hildebrand Gurlitt verlor zwei Museumsstellen – und seine Erlaubnis, mit Kunst zu handeln. Bis die Nazis dann versuchten, über den Verkauf der von ihnen als „entartet“ gebrandmarkten Kunst aus den öffentlichen Sammlungen Devisen zu lukrieren. Hildebrand Gurlitt war einer der wenigen Kunsthändler mit Expertise in diesem Gebiet – und mit guten Kontakten zu internationalen Käufern. Also wurde er wieder eingesetzt – und bekam Zugriff auf wertvolle Kunst, oft zu Spottpreisen. Vieles davon dürfte er für sich selbst angekauft haben.

„Führermuseum“

Aber Hildebrand Gurlitt hatte später noch einen anderen Auftrag: Vorwiegend im besetzten Paris sollte er dort enteignete Kunst für das geplante „Führermuseum“ in Linz erwerben. Was er mit großem Einsatz tat: er wurde zu einem „der am meisten mit dem Sonderauftrag Linz beschäftigten Kunsthändler“, der „allein im Juni 1944 in Paris Kunstgegenstände um über drei Millionen Reichsmark erwarb“, so Wladika. Nach dem Krieg dann „verhalfen ihm seine jüdischen Wurzeln, die Tatsache, dass er keiner Partei oder NS-Gruppe angehörte, sowie sein Einsatz für die moderne Kunst, sich zu rehabilitieren.“ Wie auch Wolfgang, der es zum Galerienchef in Linz brachte, war Hildebrand Gurlitt als Leiter des Kunstvereins Düsseldorf wieder in führender Position im Kunstbetrieb tätig.

Auch seine Sammlung konnte er, wie in der Vorwoche bekannt wurde, retten. Er gab an, dass diese zum größten Teil in Dresden verbrannte. Und jene rund 100 bei ihm gefundenen Werke, die die Alliierten konfiszierten, erhielt er 1950 zurück.

Das vorerst letzte Kapitel dieser Familiengeschichte wird derzeit über Cornelius geschrieben, Hildebrand Gurlitts Sohn, bei dem dieser Kunstschatz nun gefunden wurde. Doch der Abschluss muss warten: Cornelius Gurlitt ist untergetaucht.

„Jetzt gebt’s einmal Ruhe, wen interessiert denn das blöde Häusl?“, echauffiert sich Herr S., Nachbar von Cornelius Gurlitt in der Carl-Storch-Straße in Salzburg. Oder vielmehr Ex-Nachbar, denn Gurlitt wurde dort seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen. Jener Mann, den in Salzburg niemand kennen will und den jeder als Sonderling bezeichnet, ist heute 80 Jahre alt, scheu, unscheinbar, aber stets „adrett gekleidet“, und fährt einen bescheidenen Volkswagen.

Wen das interessiert? Viele, denn seit Gurlitts Zweitwohnsitz publik geworden ist, vergeht in der Villensiedlung kaum ein Tag ohne Kamerateams und Journalisten. Lieblingsmotive: Das Haus. Das Türschild. Der Blick durch die Hecke, verschwörerisch.

Drinnen, so munkelt man, seien kostbare Kunstwerke versteckt. Hinweise auf eine Straftat dürfte es derzeit jedenfalls nicht geben, sonst wäre das Haus längst von der Polizei durchsucht worden, erklärt Staatsanwalt Marcus Neher: „Ohne Rechtshilfeansuchen aus Deutschland gibt es für uns keinen Grund, aktiv zu werden.“

Das sieht das Ehepaar Ludescher, zwei Häuser weiter, anders. Ihre Sorge gilt weniger den vermeintlichen Schätzen, mehr dem Landschaftsbild. „Das Haus verfällt, es ist ein Schandfleck Die Sache gehört endlich in die Hand genommen“, meint Helmut Ludescher. Halb im Scherz fügt er hinzu: „Vielleicht liegt der Gurlitt ja sogar als Leiche drin und keiner merkt’s?“

Das verlassene Häuschen ist umringt von wild wucherndem Gestrüpp, das Dach ist mit Moos bedeckt, die Fenstergitter sind verrostet. Der lebendigste Part des „Geisterhauses“ ist der knarzende Briefschlitz, durch den ab und zu jemand von außen lugt. Einen Kunstschatz hat aber noch niemand erspäht.

„Und wenn schon“, meint Herr S., der sich fürchtet, Fremde könnten bald die Nachbarschaft in diebischer Absicht besuchen. „Gurlitt ist ja kein Krimineller. Und wir wollen genauso wie er wieder unsere Ruhe haben.“

So viel Streit hatte wohl niemand erwartet, als vor einer Woche bekannt wurde, dass in einer Münchner Wohnung mehr als 1400 Werke namhafter Künstler gefunden wurden.

Aber seitdem herrscht allseitige Disharmonie: Die Kunsthistoriker streiten sich über die Bedeutung des Fundes, die Ermittler werden heftigst für ihre Vorgehensweise kritisiert, die USA fordern von Deutschland Transparenz über die Sammlung ein.

Über eines aber sollte man sich einig sein: Dass nun eine Sammlung auftaucht, die unter ungeklärten Umständen während des NS-Regimes angehäuft wurde, ist ein wichtiger Weckruf gegen das Vergessen und Verdrängen.

Auch wenn es vielen nicht recht ist: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist nicht abgeschlossen, und das hat sich zuletzt in aller Deutlichkeit gezeigt, nicht nur in München.

So rückte in Wien in Zusammenhang mit dem Beethovenfries die unrühmliche Rolle der Republik im Umgang mit den Erben der enteigneten und ermordeten jüdischen Sammler ins Zentrum. Und eine frisch vor den Vorhang geholte Sammlung wertvoller Klimt-Bilder sieht sich mit Raubkunstvorwürfen konfrontiert.

Noch immer sind viele dieser Fragen ungeklärt. Zu erkennen, dass es dabei nicht immer nur um rechtliche Fragen geht, ist eine Form des Gedenkens, die nichts an Notwendigkeit eingebüßt hat.

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