Erwin Wurm: "Migration ist Teil unserer Welt"

„Stillstehen und über das Mittelmeer schauen“: Laster als Aussichtsturm
Biennale Venedig: Erwin Wurm im Interview über seine spektakulären Skulpturen für den österreichischen Pavillon.

Erwin Wurm sorgt für einen Eyecatcher bei der Biennale: Unmittelbar vor dem österreichischen Pavillon ragt ein Laster, mit der Fahrerkabine auf einem Podest stehend, zehn Meter in die Höhe. Der Bildhauer, 1954 in Bruck geboren, hat ihn zum Aussichts-turm umfunktioniert. Dem Besucher erteilt Wurm den Auftrag: "Stillstehen und über das Mittelmeer schauen." Was nicht ganz einfach ist, da die Bäume rundum den Seeblick verunmöglichen.

Im Inneren des Pavillons stößt man auf einen Caravan aus den 70er-Jahren und, im Raum verstreut, dazu passende Objekte wie Tischchen und Campingtoilette, gegossen aus Aluminium. Wer genau schaut, wird viele aufgezeichnete Handlungsanweisungen für absurde Posen entdecken. Man soll zum Beispiel aus einem Loch im Caravan den Arm rausstrecken: "Touch the world!"

KURIER: Biennale-Kommissärin Christa Steinle nominierte Brigitte Kowanz und Sie, was zu einem Zwist geführt haben soll.

Erwin Wurm: Von meiner Seite aus gab es keinen. Ich bin mit Brigitte seit Jahrzehnten befreundet, wir waren lange Zeit gemeinsam an der Angewandten. Ehrlich: Ich freue mich, dass wir Österreich vertreten. Aber ich wusste, dass ich neue "One Minute Sculptures" entwickeln will. Und das geht nicht in Kombination. Denn entweder baue ich Podeste, um die Besucher als Skulptur zu erhöhen, oder ich mache, wie schon öfter und wie jetzt in Venedig, den ganzen Raum zum Podest. Diese Räume sind minimalistisch und streng angelegt, sie brauchen absolute Konzentration und Ernsthaftigkeit. Der Pavillon hat daher einen weißen Boden, die Besucher gehen hinein – und steigen quasi aufs Podest.

Sie machen damit jeden Besucher zum Komplizen?

"Komplize" ist das falsche Wort. Ich lade alle ein, meinen gezeichneten Anweisungen zu folgen und die Skulpturen zu realisieren. Es bleibt den Menschen aber freigestellt, ob sie aktiv werden wollen – oder ob sie sich die Skulpturen lieber nur vorstellen. Allerdings bringt die Entscheidung, die Einladung anzunehmen, eine sehr interessante Verschiebung mit sich. Die Betrachter sind nicht mehr passive Beobachter, sondern werden zu aktiven Beobachteten.

Den Wohnwagen ergänzen Sie um einen auf der Fahrerkabine stehenden Lastwagen, der zehn Meter in die Höhe ragt. Soll er wie ein Magnet anziehen?

Ich wollte ein Zeichen setzen, das mit der Arbeit im Pavillon korrespondiert. Mich interessiert dabei der Begriff Mobilität in seinen positiven wie negativen Auswirkungen. Mein erstes Auto war im Jahr 2000 das "Fat Car". Es gab auch schon 2005 eine Arbeit mit einem Truck. Ich sehe die Skulptur als konsequente Fortführung meiner Ideen. Sie wurde von GUZ in Nischni Nowgorod gebaut – inklusive all der Metallverstrebungen und der Treppe im Inneren. Sehr aufwendig! Denn die Italiener haben unglaubliche Sicherheitsbestimmungen, die wir einhalten mussten.

Der Lkw wirkt so, als könnte er jeden Moment umfallen ...

Keine Sorge, er steht sehr stabil da! Er ist ja jetzt ein Aussichtsturm.

Aber er ist nicht gerade für einen Besucheransturm konzipiert.

Es dürfen sich maximal fünf Besucher gleichzeitig im Truck befinden.

Es wird sich also eine Schlange bilden, was die Sache noch interessanter macht und als Taktik angesehen werden könnte.

Das war nicht Absicht, sondern ergab sich aus der Tatsache, dass die Plattform wegen der baupolizeilichen Einschränkungen nur sehr klein ist. Der limitierte Zugang wurde uns verordnet.

Es gibt aber auch eine Zugangsbeschränkung für den Pavillon.

Für die Eröffnung haben sich Tausende Besucher angemeldet. Daher haben wir uns entschlossen, den Zugang zu regeln – wie es in allen Museen der Welt üblich ist. Ich möchte zwar, dass jeder Besucher mitmachen kann, aber die fragilen Objekte sollen doch nicht gleich in den ersten Tagen kaputt gehen. Auch Brigitte will nicht, dass ihre Lichtinstallation überrannt wird. Wir haben ja, glaube ich, eine für beide Seiten gute Lösung gefunden. Brigitte hat nun einen eigenen, tollen, hohen Raum, perfekt gemacht von Architekt Hermann Eisenköck.

Kurz vor Weihnachten steuerte ein islamistischer Attentäter einen Sattelzug in Berlin in eine Menschenmenge, es starben zwölf Menschen. Ist dieser Konnex nicht problematisch?

Nach dem Terroranschlag fragte ich mich schon, ob ich die Arbeit noch realisieren darf. Aber da so gut wie alle Transportmittel zum Morden missbraucht werden können, etwa Flugzeuge und Boote, schwanden meine Bedenken wieder. Natürlich denkt man auch an die 71 Flüchtlinge, die 2015 in einem Kühllastwagen starben. Das ist eine furchtbare Tragödie. Sie war für mich ein Grund, über Migration nachzudenken.

Mit welchem Ergebnis?

Migrationsbewegungen hat es zu allen Zeiten der Menschheit gegeben. Der Homo sapiens hat von Afrika aus die Welt erwandert und erobert. Migration ist Teil unserer Welt, wir alle sind ein Gemisch aus verschiedensten Einflüssen und Kulturen. Migration ist daher nicht von vornherein abzulehnen. Es geht nur darum, damit richtig umzugehen. Das gilt auch für den Truck: Prinzipiell ist er ein neutrales Vehikel. Meine Arbeit ist zudem ein Statement zum Massentourismus. Denn mit dem Wohnwagen nimmt man sich die Heimat in die Fremde mit. Man integriert sich nicht, bleibt in seinem Schneckenhaus. Mich hat der Wohnwagen daher schon immer interessiert. Ich habe dem Caravan den Untertitel "Narrenschiff" gegeben. Da denkt man an die Moralsatire von Sebastian Brant, an das Bild von Hieronymus Bosch, an den verfilmten Roman von Katherine Anne Porter. Es geht um das Reisen, den Wahnsinn – und auch darum, dass man Menschen ausschließen will, weil man, aus welchen Gründen auch immer, Angst vor ihnen hat.

Im Gegensatz zum Lkw haben Sie aber keinen modernen Camper verwendet, sondern einen Wohnwagen aus den 1970er-Jahren – noch mit einer alten schwarzen Nummerntafel.

Ich wollte ein Relikt aus der Zeit, als der Massentourismus einsetzte. Auch ich bin mit meinen Eltern an die Adria, nach Caorle, gefahren – durch das Kanaltal. In der Kolonne hinter den Deutschen und Niederländern mit ihren Wohnwagen. Mühsam! Auf der Rückfahrt sind wir immer in Tarvis stehengeblieben, haben eingekauft – und die Sachen dann nach Österreich geschmuggelt.

Obwohl Ihr Vater Polizist war?

Ja, in seinem Skoda. Aber hat das damals nicht jeder gemacht? Ich hätte ja am liebsten einen Caravan aus den 60ern gehabt. War leider nicht möglich. Wir haben zumindest einen aus den 1970ern gefunden – inklusive Originalausstattung. Die Wände wurden natürlich aufgedoppelt, damit man sich drinnen aufführen, also die von mir vorgeschlagenen Haltungen einnehmen kann.

Auch auf der Lkw-Plattform findet man eine Anweisung. Sie lautet: "Stillstehen und über das Mittelmeer schauen." Aber man sieht es nicht. Wussten Sie das bereits bei der Konzeption?

Nein. Das fiel mir erst auf, als ich bei einer Besichtigung auf dem Dach des Pavillons stand. Aber der Zufall leitet einen eben. Man kann das Ergebnis akzeptieren – oder ablehnen. Ich habe es akzeptiert. Die Arbeit wird 2018 im Brooklyn Bridge Park gezeigt. Von dort sieht man sehr gut auf die Freiheitsstatue, aber das Mittelmeer sieht man natürlich nicht. Es ist eben nur in unser aller Köpfe.

Wie viel hat Ihr Truck gekostet?

Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Der Unternehmer Sigi Wolf hat ihn bezahlt. Ich fragte ihn: "Was schulde ich dir?" Er sagte: "Nichts." Ich sagte: "Darf ich dir zumindest eine Skulptur schenken?" Und er sagte: "Du weißt, ich sammle nicht." Er hat den Truck also ohne echte Gegenleistung finanziert – inklusive Transport bis Mestre. Das nenne ich Mäzenatentum. Trotzdem waren die Kosten enorm – allein für den Transport von Mestre zum Pavillon.

Das Budget für den Österreich-Auftritt ist eng bemessen. Steinle hat daher Sorgen, dass es – trotz hoher Sponsoring-Einnahmen – ein Defizit geben könnte, für das sie persönlich haftet.

Brigitte und ich haben daher je eine Edition aufgelegt; die Erlöse, 100.000 Euro, flossen in das Budget. Wir wollen natürlich nicht, dass Steinle irgendwelche Nachteile hat. Sie hat uns nominiert – dafür sind wir ihr sehr dankbar. Und auch ihrem Team. Es leistet Hervorragendes. Sie glauben ja nicht, wie kompliziert alles ist in Venedig! Es hat allein sechs Monate gebraucht, um die Genehmigung für den Truck zu bekommen. Ein Superstress! Ich bin sehr erleichtert, dass alles so funktioniert hat, wie ich es mir vorgestellt hatte.

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