Erich Kästners "geheimes Kriegstagebuch"

Nicht nur Kinderbuchautor: Erich Kästner (1899–1974)
"Das blaue Buch" ist zwar keine Sensation. Aber es erweitert den Blick. Auch auf den berühmten Autor.

Erich Kästner hat dieses Tagebuch mit dem blauen Einband, das er zwischen 1941 und 1945 in Kurzschrift führte, gut versteckt. Unter die 4000 Bände seiner Bibliothek gereiht, überstand es auch Hausdurchsuchungen: Kästner war im Nazideutschland ein "verbotener Schriftsteller", offiziell hatte er Schreibverbot und wurde von der Gestapo kontrolliert.

Ein Bombentreffer ruinierte 1944 seine Wohnung in Berlin – da saß er im Luftschutzkeller, mit Gasmaske und mit diesem "Blauen Buch". So viel bedeutete es ihm.

Gedächtnisstütze

Als die Aufzeichnungen im Nachlass entdeckt und vor elf Jahren erstmals unverändert veröffentlicht wurden – in einem kleinen wissenschaftlichen Verlag –, wunderten sich einige der wenigen Leser, weil Kästner in seinem eigenen Tagebuch kaum vorkommt.

Auch seine Gedanken fehlen. Es gibt kaum kritische Bemerkungen von ihm.

Die (wunderbar umfangreich kommentierte) Neuauflage fürs große Publikum ist seit wenigen Tagen im Handel. Es wird sehr darauf geachtet, dass kein Missverständnis aufkommt:

"Das Blaue Buch" war als Stoffsammlung gedacht. Als Gedächtnisstütze. Ein Schriftsteller übte sich im bloßen Beobachten.

Unbeteiligter Zeuge wollte Erich Kästner sein, um später aus dem Rohmaterial einen Roman über die NS-Zeit zu schreiben, vielleicht mit einer Männerfreundschaft im Mittelpunkt.

Dazu kam es nie.

Einzig einige von ihm bearbeitete Tagebucheintragungen aus 1945 wurden unter dem Titel "Notabene 45" (1961) herausgebracht.

Die Auswahl der notierten Ereignisse bzw. beigelegten Zeitungsausschnitte ist aber durchaus deutlich.

So findet man im "Blauen Buch" die Anekdote mit dem "Reichsstatthalter" von Wien Baldur von Schirach, der in einer Floridsdorfer Fabrik eine Rede halten wollte ... aber die Arbeiter applaudierten und jubelten und sangen. Das war von ihnen ironisch gemeint, zwei Stunden lang hielten sie durch, dann verließ Schirach das Rednerpult, ohne einen einzigen Satz gesprochen zu haben.

Flüsterwitze notierte Kästner: "Der Krieg wird wegen des großen Erfolges verlängert." Und er dokumentierte Plünderungen, Judenerschießungen im Osten, das Nachtleben der Militärs, den österreichischen Opportunismus ...

Fehler

Die Frage nach dem Krieg, warum er das Land nicht verlassen hatte, nervte ihn. Erich Kästner war eine Berühmtheit, es wäre für ihn kein Problem gewesen, Aufnahme zu finden.

Manchmal antwortete er mit dem Gedicht:

"Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen. / Mich läßt die Heimat nicht fort. / Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen – / wenn’s sein muß, in Deutschland verdorrt."

Meist führte er als Hauptgrund an, er habe "dableiben müssen", um alles mitzuerleben – um es nachher schildern zu können, um die Zeit begreiflich zu machen.

Vielleicht wollte er aber einfach nicht darauf verzichten, sich von der Mutter die Hosen waschen zu lassen.

Im Alter aber hat Erich Kästner zugegeben, die innere Emigration sei ein Fehler gewesen: Eine Diktatur müsse man verlassen, um gegen sie kämpfen zu können.


Erich Kästner: „Das Blaue Buch“
Herausgegeben von Sven
Hanuschek,
Ulrich Bülow und Silke Becker.
Atrium Verlag.
432 Seiten.
32,90 Euro.

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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