Enright: Die Ehebrecherin liebt kolossal

Enright: Die Ehebrecherin liebt kolossal
Es ist nur der Seitensprung zweier Verheirateter, den uns die Booker-Preisträgerin aus Irland in ihrer überwältigenden Schlichtheit vorführt.

Das ist ein Buch übers Wollen; und übers Kriegen. Wobei Gina, die rund 30-jährige Hauptfigur, mehr bekommt, als sie wollte.
Nein, weniger.

Egal, es ist jedenfalls nicht so, wie Gina es sich vorgestellt hat. Was hat sie sich denn vorgestellt? Nichts. Sie ist verliebt und pragmatisch genug, um die dazugehörenden Enttäuschungen mit Selbstironie zu akzeptieren.

Die kluge Frau erzählt rückblickend die Geschichte eines Ehebruchs. Ihres Ehebruchs, begangen im heutigen katholischen Irland.

Grauer Charmeur

Enright: Die Ehebrecherin liebt kolossal

Jetzt kann schon sein, dass man absolut keine Lust auf einen Roman über einen Seitensprung hat. Aber dann versäumt man nicht bloß eine von vielen Affären, sondern die "Anatomie einer Affäre".

Gina ist verheiratet. Ihr Mann ist ein Kleiner, Starker, etwas Lahmarschiger, den alle mögen.

Seán ist 20 Jahre älter. Der Nachbar von Ginas Schwester. Ein grauhaariger Charmeur. Einer, der immer gewinnen will. Auch er ist verheiratet; und er hat eine Tochter.
Gina liebt Seán, und Seán liebt - schon auch - Gina.

Beide Ehen werden zerstört, Freundschaften gehen auseinander, Ginas Schwester ist sehr, sehr zornig. Aber der reicht es halt offensichtlich zum Glück (denkt sich Gina), wenn sich ihr Alter jeden Freitag auf sie schmeißt, kurz. Vorher hat er sein wöchentliches Flascherl Wein getrunken.
Gina will mehr.
Gina bekommt Seán. Dessen Ehefrau bekommt sie irgendwie auch mitgeliefert. Zwar wohnt das neue Paar zusammen, aber zu Weihnachten etwa, da ist "er" bei Ehefrau und Kind.

Seiner Gina, die ihm - wie er gern betont - das Leben gerettet hat, stellt er eine Flasche Champagner vor die Tür. Immerhin.

Das Kind bekommt Gina auch dazu. Evie wächst im Roman bis zwölf. Sie litt unter epileptischen Anfällen. Und: Manchmal sitzt Evie stundenlang am Klo und weiß nicht, warum.
Man muss also auf sie achtgeben.
Seáns Ehefrau hat Gina deshalb ein Merkblatt geschickt.

Ohne Kind wäre es - schöner? Wer weiß. Jedenfalls gehört es dazu, wenn man kolossal liebt. Katastrophal liebt. Wenn man Seán liebt ...

Anne Enright aus Dublin - Booker-Preisträgerin 2007 für "Das Familientreffen" - urteilt nicht. Ihre Heldin ist eh gestraft. Enright schreibt von einem Zustand der Gesellschaft. Ganz schlicht tut sie das. Trotzdem schreibt sie einen schwindlig. Und ist amüsiert darüber, dass ihre weiblichen Leser so hart mit Gina ins Gericht gehen. - Peter Pisa

KURIER-Wertung: ****
* von *****

Katharina Geiser - "Diese Gezeiten"

Enright: Die Ehebrecherin liebt kolossal

Schön, wenn man etwas dazulernt: Die britische Kanalinsel Jersey war bis 9. Mai 1945 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Sie war - kleiner als der Neusiedler See - zu "unwichtig", um früher befreit zu werden.

Die 40.000 Bewohner waren damals fast alle am Verhungern.
Noch besser, wenn man solche Neuigkeit in einem Roman erfährt, der in den kloakenbraunen Zeiten mit 16.000 Zwangsarbeitern, die Bunker und Tunnel bauen mussten, trotzdem nicht auf den tiefblauen Himmel vergisst. Auf die Narzissen. Auf die Bucht von St. Brelade.

"Diese Gezeiten" hat Farben und Atmosphäre und zwei aufregende Frauen um die 50: Stiefschwestern, Lebenspartnerinnen, Künstlerinnen aus Paris, die sich 1937 auf die Insel zurückzogen, um zu fotografieren, einen Garten zu pflegen, ein Buch zu übersetzen ...
Als die Schweizer Schriftstellerin Katharina Geiser erstmals auf Jersey urlaubte, fühlte sie sich derart wohl, dass sie den Wunsch hatte, an irgendetwas zu geraten, "worüber zu schreiben wäre".

Aufzuschreiben war sie unbedingt, die unbekannte, wahre Geschichte von Lucy Schwob und Suzanne Malherbe. Die hatten sofort nach der Okkupation auf ihre Art mit Widerstand begonnen: feinsinnig, an die Macht der Wörter glaubend.

"Für das große Deutschland Goethes! Kameraden! Haltet ihr es mit uns?'"
Jahrelang brachten sie Flugzettel unter die Soldaten, pickten sie auf Autos, steckten sie in Taschen.
Sie gaben zu denken.

1944 wurden Lucy und Suzanne an die Deutschen verraten. Vielleicht von jener Geschäftsfrau, bei der sie Papier gekauft hatten. Es folgten Todesurteile, die nicht vollstreckt wurden.

Katharina Geiser ist umwerfend gut, wenn sie sparsamst beschreibt, was sie nicht gesehen, nicht erlebt hat. Wird sie zwischendurch ausführlich und opulent, schauen wir uns halt einstweilen im Internet an, welche Hotels es auf Jersey gibt. - P.P.

KURIER-Wertung: **** von *****

DBC Pierre - "Das Buch Gabriel"

Enright: Die Ehebrecherin liebt kolossal

In der Erzählung "Ein Kind" schreibt Thomas Bernhard über seinen Großvater Johannes Freumbichler: "Das Wort Selbstmord war eines seiner selbstverständlichsten Wörter ..."
Freumbichler starb mit 68 an Nierenversagen.
Wie gerne würde man Thomas Bernhard lesen.
Man liest DBC Pierre.

Der australische Autor legt mit "Das Buch Gabriel" sein drittes in deutscher Sprache vor. Und - besser als sein 2003 mit dem Booker Preis ausgezeichneter Erstling "Jesus von Texas" war keines mehr.

Diesmal präsentiert er dem Leser die Figur Gabriel Brockwell. Der laboriert in erster Linie am Rich-Kid-Syndrom (alles haben, aber nichts damit anfangen können) und hat deshalb beschlossen, aus dem Leben zu scheiden.
Aber nicht gleich.

Sondern als Höhepunkt einer Orgie; ein Bacchanal, das Gastgeber Trimalchio aus dem "Satyricon" Tränen in die Augen getrieben hätte. Tod durch Dekadenz ist Gabriels Leitsatz.

Ausgedehnt auf 380 Seiten paranoides, pseudointellektuelles Geplapper.
Da hat einer brav die Frankfurter Schulbank gedrückt. Horkheimer. Adorno. Habermas. Konsumieren wird vom Privileg zum Recht, zur Pflicht ... bla ...
Welche Seite im Buch war's, wo man zuerst dachte: "Jetzt wiss ' mas schon!"?

Man hat bald Überdruss an all dem Überfluss. Dass sich dazu DBC Pierre immer wieder im eigenen Textexzess (samt Fußnoten) verirrt, mag ja Teil eines Plans sein - nur welches?

Gabriel war der Visionär unter den Erzengeln. Dieser hier zieht mit Alkohol und Kokain eine "Line" der Vernichtung.

Alles stirbt. Vor allem alles, was essbar ist. Denn eine geheimbündlerische Gourmet-Elite frisst sich von Tokio (da gibt's eine kranke Sexszene mit lebender Krake) bis Berlin.
Dort wartet die Rache der letzten Ossis. Der Kapitalismus ist tot, es lebt ... Gabriel. - Michaela Mottinger

KURIER-Wertung: *** von *****

Miguel Herz-Kestranek - "Die Frau von Pollak"

Enright: Die Ehebrecherin liebt kolossal

Der Vater ist manchem ein Rucksack, an dem er lebenslang zu tragen hat. Für Miguel Herz-Kestranek ist die Vaterfigur Inspiration: Erinnerung an einen Mann, "der mit Hingabe seinen Sprachschatz pflegte, den jüdelnden Ton liebte" und mit Leidenschaft jüdische Witze erzählte. Aber "Die Frau von Pollak" ist kein schnödes Witzebuch, auch wenn es der Untertitel "Wie mein Vater jüdische Witze erzählte" vermuten lässt. Eher eine Spurensuche im Gestern. Mit vielen Anekdoten. Und sehr persönlich. Immer wieder schimmert bei den pointenreichen Geschichten dieses selbstironische Lachen über die eigenen Verzweiflungen und Widersprüche durch, die jeder von uns hat.

Und leiser Humor, der schmunzeln macht. Wie das Credo des Autors: "Ich bin ein jüdischer Buddhchrist, ich lebe meine jüdischen Wurzeln, meine christliche Erziehung und meine buddhistischen Erkenntnisse." - Werner Rosenberger

KURIER-Wertung: ****
* von *****

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