Ein Syrer in Finnland hat es auch bei Kaurismäki nicht leicht

Silberner Bär in Berlin: Aki Kaurismäkis "The Other Side of Hope"
Aki Kaurismäki bietet eine unterhaltsame und dennoch tiefsinnige Sicht auf die Flüchtlingskrise.

Eine dunkle Gestalt schält sich aus einem Kohlehaufen. Klopft sich den Staub vom Gewand, buddelt den Rucksack aus und verlässt hastig das Schiff, das soeben im Hafen von Helsinki angelegt hat. Auf der nächsten Toilette wird aus dem blinden Kohle-Passagier der stolze Syrer Khaled. Voller Zuversicht begibt er sich zur nächsten Polizeistation, sucht um Asyl an. Einer, der aus Aleppo kommt, hat doch beste Chancen, oder? Aber Khaled erhält kein Asyl: Dort, wo er in Aleppo wohnte, sei es nicht mehr gefährlich. Wie zum Hohn läuft im Hintergrund im Fernsehen ein Bericht über heftige Bombardements Aleppos.

Lakonisch

Aki Kaurismäki, der Ober-Lakoniker des finnischen Films, braucht nicht viele Worte, um von Unglück oder vom Aufbruch eines seiner typischen Antihelden zu erzählen. Mit wenigen Worten, aber umso prägnanteren Bildern holt der Mann, der sein Image des Trinkfesten ebenso kultiviert wie jenes des liebenswerten Humanisten die Verwerfungen unserer Gesellschaft ins Kino. War es in Kaurismäkis letztem Film, "Le Havre", ein Schuhputzer in Le Havre, der sich eines minderjährigen Afrikaners annahm, so spiegelt er nun die Kriegssituation im Nahen Osten, die uns, dem reichen Westen, so viele ungeliebte Flüchtlinge beschert.

Diesmal nimmt sich der Ex-Vertreter und Neo-Gastronom Wikström des abgewiesenen Flüchtlings Khaled an und bietet ihm mitsamt seiner ziemlich schrägen Restaurant-Crew Schutz und etwas Wärme. Zumindest für kurze Zeit: Irgendwann holt das echte Leben mit seinen rechten Schlägern die nette Truppe im Nullsterne-Etablissement wieder ein.

Kaurismäki zeigt mit unerschütterlicher Gelassenheit eine Welt, die möglich wäre – eine Welt der kleinen Leute, die Humanismus größer schreiben als Profit. Wenn jeder Einzelne Mensch bleibt, ist die Welt insgesamt nicht so grausam.

INFO: Finnland 2017. 98 Min. Von Aki Kaurismäki. Mit Sakari Kuosmanen.

KURIER-Wertung:

Ein Vermummter dringt über die Balkontür ins Wohnzimmer ein. Fällt her über die zarte Frau, die gerade nach ihrer Katze gesehen hat. Vergewaltigt sie brutal, schlägt sie. Sie wehrt sich nicht, wimmert, hört eine Vase zerbrechen.

Sie zerbricht nicht.

Isabelle Huppert beweist in Paul Verhoevens, im bourgeoisen Pariser Milieu angesiedelten Vergewaltigungsthriller, dass sie derzeit einfach die Beste unter allen Charakterdarstellerinnen ist. Sie geht auf in dieser Michèle und steckt alle Kraft in sie. Nonchalant erhebt sich Michèle über ihre Schande, steckt die Tat weg und sieht diese als Auslöser für ihre Selbstermächtigung: Sie nimmt die Zügel in die Hand, lässt sich nicht unterkriegen, sondern will es mit ihrem Peiniger aufnehmen. Tut ihren Freunden und ihrer Familie gegenüber so, als ob ihr nichts etwas anhaben könnte – obwohl sie doch schon lange Zeit traumatisiert ist.

Das Drehbuch dieses abgründigen Thrillers basiert auf dem die bürgerliche französische Gesellschaft sezierenden Roman "Oh..." des Literatur-Rebells Philippe Dijan. Das Lesen des Buchs war für Huppert eine Erweckung: "Ich wusste sofort, dass das ein guter Film wird und ich die Michèle spielen möchte".

Nach und nach offenbaren sich die Schatten auf Michèles Psyche, die als Kind mitansehen musste, wie ihr Vater mit Messer und Hacke Amok lief. Ihr Sohn ist ein unverbesserlicher Pantoffelheld, der sich von der Freundin ausnutzen lässt. Michèles Mutter eine Exzentrikerin, die viel Geld ausgibt und nervig ist. Geliebtes Biest.

Der Niederländer Verhoeven erschafft gemeinsam mit Huppert eine bewundernswerte Heldin, die hinter ihrer eisigen Fassade abgrundtiefe Verletzlichkeit und Sehnsucht nach Geborgenheit erahnen lässt. Am Ende triumphiert dann aber doch wieder ihre Nüchternheit, ihr Sich-Fügen in die zwingenden Seiten des Lebens. Aber – zumindest für einige Momente – wird man doch noch zeigen dürfen, dass man auch anders, ganz zart, kann.

INFO: F/D/B 2016. 130 Min. Von Paul Verhoeven. Mit Isabelle Huppert, Laurent Laffitte, Anne Consigny.

KURIER-Wertung:

Ein Syrer in Finnland hat es auch bei Kaurismäki nicht leicht
GewaltigerAuftritt: Isabelle Huppert als Opfer, das sich  erhebt

23.000 Läufer nahmen am 15. April 2013 die 42,195 Kilometer-Distanz des Boston Marathons in Angriff, als es um 14.50 Uhr Ortszeit im Zieleinlauf zur Katastrophe kam: Attentäter zündeten einen Kochtopfsprengsatz, Sekunden später einen zweiten. Drei Menschen – unter ihnen ein achtjähriges Kind – kamen ums Leben, 264 wurden verletzt.

Akribisch rollt Regisseur Peter Berg die damaligen Geschehnisse in diesem Hollywood-Hochglanzfilm noch einmal auf. Inszeniert die Jagd nach den beiden Terrorbrüdern Tamerlan und Dschichar Tsarnaev als atemlosen Krimi und kollektiven Befreiungsschlag einer Stadt, die sich mit einer derartigen Eskalation der Gewalt nicht abfinden will.

Bis in die Nebenrollen ist der Film mit prominenten Namen besetzt: Mark Wahlberg spielt den unermüdlichen Polizei-Sergeant Tommy Saunders, der den Schurken Tsarnaev zur Strecke bringt, Kevin Bacon den FBI-Agenten, John Goodmann den Bostoner Polizeichef. Auch Michelle Monaghan und J.K. Simmons ("Whiplash")sind mit von der Partie. Ein emotional wie physisch packender Film, der den Weg ins Kino lohnt.

INFO: USA 2016. 130 Min. Von Peter Berg. Mit Mark Wahlberg, John Goodman, Kevin Bacon.

KURIER-Wertung:

Ein Syrer in Finnland hat es auch bei Kaurismäki nicht leicht
Auf den Fersen der Boston-Attentäter: Mark Wahlberg

Der fünfjährige Saroo begleitet seinen Bruder bei seinem nächtlichen Job und schläft, als der Bruder beschäftigt ist, in einem abgestellten Waggon in seinem indischen Dorf ein. Tags darauf wacht er in Kalkutta wieder auf. Der Kleine kann weder den Namen seines Dorfs noch den seiner Mutter richtig aussprechen, also bleibt auch die Suche nach ihnen erfolglos.

Der Bub kommt in ein Waisenhaus, wo es den Kindern alles andere als gut geht und wird schließlich von einem australischen Ehepaar adoptiert. Als Erwachsener besinnt er sich seiner Wurzeln und will sein Dorf wiederfinden. Seine Heimat, seine alte Familie.

Die (wahre) Odyssee des Saroo Brierley, die vor zwei Jahren zum weltweiten Buchbestseller wurde, ist rührend, kitschig, stellenweise zäh und doch gut. 6-fach oscarnominiert.

INFO: AUS/GB/USA 2016. 120 Min. Von Garth Davis. Mit Dev Patel, Nicole Kidman.

KURIER-Wertung:

Ein Syrer in Finnland hat es auch bei Kaurismäki nicht leicht
Dev Patel sucht seine Familie: "Lion - Der lange Weg nach Hause"

Menschliche Leichen in riesigen Wassertanks, Massen glitschiger Aale und ein in Cinemascope verendender Hirsch: Willkommen in der Gruselwelt eines noblen Wellness Centers in den Schweizer Bergen. Dorthin wird der ehrgeizige Finanzmanager Lockhart geschickt, um den Oberboss seiner Firma, der dort kurt, für eine ganz wichtige Vertragsfinalisierung nach N.Y. zurückzuholen. Doch die Mission erweist sich als wesentlich vertrackter als erwartet: Der Boss scheint durch eine Gehirnwäsche gelaufen zu sein und will nicht weg – so wie alle anderen mysteriösen Kurgäste. Kurz: Lockharts Reise wird ein Höllentrip in die Welt irrer Patienten und Ärzte, aus der es kein Entrinnen gibt. Und in die es auch ihn bald unwiderruflich hineinzieht. "Shutter Island" für Arme – "Fluch der Karibik"-Regisseur Gore Verbinski ist eben nicht Scorsese.

INFO: USA/D 2017. 146 Min. Von Gore Verbinski. Mit Dane DeHaan, Mia Goth, Jason Isaacs.

KURIER-Wertung:

Ein Syrer in Finnland hat es auch bei Kaurismäki nicht leicht
"A Cure for Wellness": Psychothriller von Gore Verbinski

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