"Ein guter Koch gibt nicht jedes Rezept preis"

Setzt neue Akzente – und schafft spannende künstlerische Konstellationen: Markus Hinterhäuser
Am 21. Juli werden die Salzburger Festspiele eröffnet. Im Interview erklärt der neue Intendant Markus Hinterhäuser, wie er Salzburg zu einem "Epizentrum des Besonderen" machen will.

KURIER: Ende Juni erhielten Sie in Graz den Mortier Award 2017. Benannt ist die Auszeichnung nach Gerard Mortier, der von 1991 bis 2001 die Salzburger Festspiele geleitet hat. Dass Sie ausgewählt wurden, hat eine gewisse Logik. Denn Sie haben bei Mortier, der 2014 starb, quasi das Handwerk des Programmmachens gelernt.

Markus Hinterhäuser: Ich weiß nicht, ob "Handwerk" das richtige Wort ist. Aber es stimmt: Die 90er-Jahre mit Gerard Mortier und Hans Landesmann, dem kaufmännischen Direktor und Konzertchef, waren absolut prägend für mich. Es gab nicht nur die Überzeugung, es gab auch den Willen, in Salzburg nach Herbert von Karajan etwas Neues entstehen zu lassen. Tatsächlich wurden die Festspiele zugänglicher, freundlicher, leichter. Und es wurde klar, dass Festspiele viel mehr sind als eine beliebige Aneinanderreihung von Veranstaltungen, die mal mehr oder weniger glücken. Ohne einen missionarischen Eifer an den Tag zu legen, wurde ein gestalterischer Wille erkennbar, wurde allen bewusst, dass die Salzburger Festspiele in erster Linie ein Festival der Künste sind.

Sie haben damals zusammen mit Tomas Zierhofer-Kin ein Festival im Festival gründen dürfen. Wie kam es dazu? Sie waren ein junger Pianist, der von John Cage schwärmte.

Tomas Zierhofer-Kin und ich saßen irgendwann am Beginn der 90er-Jahre an der Salzach und hatten die verwegene Idee, "Prometeo – Tragedia dell’ascolto" von Luigi Nono zu realisieren. Wir kannten uns vom Mozarteum, Tomas studierte damals Gesang. Uns war schnell klar, dass ein solches Projekt ohne die Struktur und die Möglichkeiten der Festspiele nicht zu machen ist. Wir traten an das Direktorium heran, der erste Ansprechpartner war Hans Landesmann. Unsere Idee stieß zwar auf Interesse, aber Landesmann war ein – in einem positiven Sinne – vorsichtiger Mann. Es gab also vorerst eine Absage. Ein paar Monate später aber suchte Landesmann den Kontakt zu uns, und allmählich wurde die Sache konkreter. 1993 fand das erste "Zeitfluss"-Festival statt. Die Großzügigkeit, ein Festival im Festival zuzulassen, war wirklich bemerkenswert. In den fünf "Zeitfluss"-Ausgaben wurde praktisch das Gesamtwerk von Luigi Nono exemplarisch zur Aufführung gebracht – und viele andere Dinge, die zuvor in Salzburg nicht einmal denkbar gewesen waren und die zum neuen Selbstverständnis der Festspiele Wesentliches beigetragen haben.

Es ging aber nicht nur um zeitgenössisches Musikschaffen, sondern auch um eine Erweiterung des Spektrums hin zu Cross-over.

Es ging um neue Musik – und darum, von dem sehr dogmatischen Begriff, was neue Musik zu sein hat, wegzukommen. Das Festival wurde in der Folge sehr viel freier und vielleicht auch offener.

Hatten Sie schon damals den Wunsch, weiter für die Festspiele arbeiten zu wollen?

Nein. Das kann ich mit Bestimmtheit sagen. Sie haben vorhin gefragt, ob ich bei Mortier das Handwerk gelernt habe. Ich würde sagen: Es war eine Schule. Ich konnte beobachten, wie Mortier und Landesmann agiert haben; der eine kommunizierte herausfordernd, der andere zurückhaltend. Aber diese Schule war nie gekoppelt an die Vorstellung, die Festspiele einmal verantworten zu wollen. Das "Zeitfluss"-Festival fand nur alle zwei Jahre statt, ich habe daher vor allem Klavier gespielt, mit Christoph Marthaler und anderen zusammengearbeitet. 2001, im letzten Sommer von Mortier, fand das letzte "Zeitfluss"-Festival statt. Ich dachte nicht weiter darüber nach. Ich war nicht wie Gerhard Schröder, der an der Tür des Kanzleramts gerüttelt hat: "Ich will da rein!" Aber 2005 wurde ich gefragt, ob ich nicht ab 2007 Konzertchef werden will. Es hat sich so gefügt. Und mich, retrospektiv betrachtet, alles andere als unglücklich gemacht.

Aufgrund von Intrigen beziehungsweise politischen Entscheidungen – statt Ihnen wurde Alexander Pereira zum Intendanten gekürt – mussten Sie einen Umweg nehmen und für drei Jahre, von 2012 bis 2014, die Wiener Festwochen leiten.

Das war kein Umweg! Es gibt einen wunderschönen Gedanken von Antonio Machado, den Luigi Nono vielen seiner Stücken eingeschrieben hat: Der Weg entsteht im Gehen. Wenn es keinen vorgezeichneten Weg gibt, dann gibt es auch keinen Umweg. Ich empfinde die Jahre in Wien als ungeheuer bereichernd, und ich kann aus den Erfahrungen hoffentlich einen Gewinn für Salzburg ziehen.

Inwiefern?

Ich bringe zum Beispiel Künstler nach Salzburg, die mir zwar bekannt waren, aber die ich erst in Wien wirklich kennengelernt habe, darunter William Kentridge oder Simon Stone.

Die Festspiele sollen "ein Epizentrum des Besonderen" sein, so der Titel Ihres Vorworts im Programmbuch. Ist "Epizentrum" nicht der falsche Begriff? Er steht in engem Konnex mit Erdbeben.

Daran habe ich nicht gedacht, als ich diese Formulierung verwendete. Früher hatten die Salzburger Festspiele beinahe eine Monopolstellung inne. Diese Zeiten sind vorbei, attraktive Angebote gibt es rundum. Aber die Festspiele haben nach wie vor eine vergleichslose Ausstrahlungskraft, wenn man sie richtig – auch von der Form her – fasst. Indem man die Vielzahl an künstlerischen Grammatiken miteinander in Berührung treten lässt.

Schon als Konzertchef in Salzburg ging es Ihnen darum, neue Konstellationen zu schaffen. Daher realisierten Sie zusammen mit dem Bariton Matthias Goerne und mit Kentridge Schuberts "Winterreise". Dadurch sprachen Sie neue Publikumsschichten an. Diesen Weg setzen Sie nun fort: Shirin Neshat inszeniert heuer Verdis "Aida".

Es kann sehr vitalisierend sein, wenn zwei Publikumsschichten – die eine interessiert sich vor allem für Musik, die andere für bildende Kunst – zusammenkommen. Das ist aber kein Konzept, und es gibt diesbezüglich auch keine strategische Überlegung. Es kommt nur darauf an: Wen hält man für richtig, welchen Stoff möglichst ideal zu erzählen. Kentridge ist für mich einer der großen Universalkünstler unserer Zeit. Und auch wenn ich meine eigenen Erfahrungen wegließe und nur seine Umsetzung von Georg Büchners "Woyzeck", eine Zusammenarbeit mit der "Johannesburg Handspring Puppet Company" 1992, kennen würde: Ich würde wissen, dass William Kentridge der Richtige ist, um Alban Bergs Oper "Wozzeck" auf die Bühne zu bringen. Oder: Ich gehe vielleicht ein gewisses Risiko ein, wenn ich Shirin Neshat mit "Aida" beauftrage. Aber in ihrem fotografischen und filmischen Werk sind ganz wesentliche Elemente enthalten, die man auch in der Geschichte von Aida und Amneris herauslesen kann. Es geht da wie dort um die Frage der Hierarchien, der Geschlechter, der Macht.

Gehen Sie wirklich ein Risiko ein? Wenn Anna Netrebko die Aida singt, sind alle Vorstellungen überbucht – unabhängig von der Regie.

So denke ich aber nicht. Dass "Aida" mit Anna Netrebko und Riccardo Muti ganz außerordentlich besetzt ist, steht vollkommen außer Frage. Aber wir haben über Shirin Neshat geredet – und meine Gründe, warum ich sie für "Aida" wollte. Ich würde sie zum Beispiel nicht fragen, den "Rosenkavalier" zu inszenieren.

Die Eröffnungspremiere am 27. Juli bestreiten nicht die Wiener Philharmoniker, sondern Teodor Currentzis mit seinem Orchester musicAeterna. Ist das nicht ein kleiner Affront?

Nein. Ich will bewusst mit der Oper "La clemenza di Tito" von Mozart die Festspiele eröffnen, eine tiefe Reflexion über das Thema, das generell im Programm, auch im Schauspiel, erfahrbar ist: Strategien und Phänomenologien der Macht. Und es gibt auch dispositionelle Gründe, warum man was wann mit wem ansetzen kann. Die Wiener Philharmoniker bestreiten heuer vier kapitale Opernwerke: "Lady Macbeth von Mzensk", "Aida", "Wozzek" und Aribert Reimanns "Lear". Es geht mir nicht darum, irgendjemanden gegeneinander auszuspielen, aber meine Freude darüber, Currentzis, sein Orchester und seinen Chor, die sich wirklich auf einem exorbitanten Niveau bewegen, hier in Salzburg zu haben, ist groß.

Currentzis ist zudem eine Art Popstar der Klassik-Szene. Er bietet eine hinreißende Show – zum Beispiel mit seiner extravaganten Kleidung und dem Kerzenmeer bei Konzerten.

Das ist aber kein Showelement, das gehört zu seiner Persönlichkeit. In letzter Konsequenz kommt es darauf an, wie er mit der Musik umgeht. Ich konnte ihn hier in Salzburg bei den Proben beobachten. Es ist wirklich atemberaubend, mit welcher Akribie er mit den Sängern arbeitet. Er und Regisseur Peter Sellars lieben und schätzen sich: 2013 haben sie "The Indian Queen" von Henry Purcell gemacht, eine großartige Produktion.

Currentzis dirigiert in Salzburg auch mehrere Konzerte, darunter Gustav Mahlers erste Symphonie – wieder zusammen mit der jungen Geigerin Patricia Kopatchinskaja. Neu ist allerdings die Kombination mit Alban Bergs Violinkonzert "Dem Andenken eines Engels".

Das hat sich in Gesprächen so ergeben. Wenn man Mahler weiterdenkt, kommt man ganz selbstverständlich zu Alban Berg.

Sie sind wieder "Playing Captain" – und spielen Olivier Messiaen. Warum die Doppelbelastung?

Es stimmt, das ist nicht ganz ohne. Ich habe schließlich auch andere Aufgaben. Aber den Wunsch, mit Igor Levit "Visions de l’Amen" zu spielen, gibt es schon länger. Und es hat programmatisch gepasst. Dieses großartige Werk für zwei Klaviere ist ja nur die zweite Hälfte eines Konzerts, den anderen Teil bestreitet das Streichquartett Cuarteto Casals mit Joseph Haydns "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze".

Das Konzert gehört zur "Ouverture Spirituelle". Gibt es – über die religiöse Thematik hinaus – noch weitere Gründe für die Kombination?

Gehen Sie ins Konzert am 24. Juli, dann werden Sie es wissen! Ein guter Koch gibt doch nicht jedes Rezept preis.

Kommentare