"Drawing Now": Das explodierte Grafikkabinett

Auch Aleksandra Mir möchte die Idee, dass Zeichnung immer nur Ausdruck eines einzhelnen sei, untergraben: "Tropical Room", 2015, entstand in Teamarbeit
Eine hervorragende Albertina-Schau zeigt die Bandbreite des Mediums Zeichnung heute auf.

Schon der Auftakt ist gelungen: Als Besucher der Albertina-Schau „Drawing Now“ gleitet man zunächst per Rolltreppe ins Untergeschoß blickt auf zwei abstrahierte, von Künstlerin Lotte Lyon in blauen und roten Klebstreifen an die Decke „gezeichnete“ Bänder, die Treppen oder auch Leitern sein könnten. Unten findet sich dann eine Rolltreppe in Form eines feinen Drahtgestellsnachgebildet, eine „Zeichnung“ im Raum, geschaffen von Fritz Panzer.

Der Einstieg in die Materie dieser so ambitionierten wie leichtfüßigen Schau ist damit gelegt: Ganz offensichtlich beschränkt sich das Medium Zeichnung nicht mehr auf Striche auf Papier, es gilt, neue Kriterien für die Kunst der Linie zu finden.

Das erweiterte Feld der Zeichnung

Die 36 Künstlerinnen und Künstler, denen Kuratorin Elsy Lahner in der Schau viel Raum zur Entfaltung einräumte, sind freilich in ihren Ansätzen zu unterschiedlich, um eine knappe Definition von „Zeichnung“ abzuliefern. Die Ausstellung versucht auch keine vorgefasste Theorie zu illustrieren, was dem Schau-Erlebnis letztlich zugute kommt.

So gibt es einige Kristallisationspunkte, um die die Beiträge angeordnet sind – „Zeichnen als kollaborativer Akt“ oder „Zeichnung im Alltag“ lauten einige der Überschriften. Abseits davon spannt sich ein Bogen durch die Schau, der seine Endpunkte einerseits bei absoluter Spontaneität, andererseits bei extrem ausgeprägter Akribie findet.

Am einen Ende hat Dan Perjovschi – offenbar vom Tagesgeschehen inspiriert – seine witzigen Aphorismen mit Kreide und Marker direkt an die Wand geschrieben: „Eurovision – Lots of Euro, tiny vision“, steht da etwa. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Zeichnen ist ein Thema bei Nikolaus Gansterer, der einen im Saal aufgebauten, an ein Alchemisten-Labor erinnernden Zeichentisch in einer Performance am 3. Juni vorführen wird.

Spontan und akribisch

Wenn die Direktheit und die Nähe zwischen Strich und Gedanke stets als Tugend der Zeichnung galt, so wurde diese Tugend stets auch untergraben und herausgefordert – diverse historische Albertina-Ausstellungen legten bereits davon Zeugnis ab.

Die Künstlerinnen und Künstler, die in „Drawing Now“ mit fein ziselierten Werken vertreten sind, brechen in diesem Sinn nicht mit der Tradition, finden aber völlig neue Formen: So sind die großformatigen, aus kleinen Bildbausteinen zusammengesetzten Werke des Kollektivs Los Carpinteros auch eine Absage an eine individuelle Handschrift; die so faszinierenden wie kryptischen Diagramme von Jorinde Voigt zeigen Freiheit und Strenge, Norm und Form in ganz ungeahnten Konstellationen.

Für Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder ist „Drawing Now“ eine Schlüssel-Ausstellung – erschien ihm die Festlegung des Museums als „grafische Sammlung“ doch stets als nicht zeitgemäß, was eine teils kontroversielle Expansionspolitik in alle erdenklichen Kunstgefilde zur Folge hatte.

Mit „Drawing Now“ kehrt nun die Zeichnung in ihrer zeitgemäßesten Form ins Museum zurück, was sich schon in der Anmutung der Ausstellungshalle zeigt: Musste Grafik hier zuletzt aus konservatorischen Gründen oft im Schummerlicht gezeigt werden, so ist nun buchstäblich das Licht angegangen.

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