Die gerettete Zunge - Von Elias Canetti

Die gerettete Zunge - Von Elias Canetti
Ein bunt gezeichnetes Kaleidoskop der Kulturen, verknüpft mit dem durch Kinderaugen betrachteten Ersten Weltkrieg.

Autobiografien von Schriftstellern sind Glücksfälle für diese Gattung: Nicht nur, dass unsere Neugier auf das Leben einer berühmten Persönlichkeit befriedigt wird, es geschieht – meistens – auch in sprachlicher Höchstform. Außerdem sind Autoren per se eher bereit, Fantasie und Wirklichkeit zu mischen, so dass nicht nur eine Biografie, sondern eine wirkliche Geschichte entsteht. Vorgemacht hat das Johann Wolfgang von Goethe mit „Dichtung und Wahrheit“. Gefolgt sind ihm viele, unter anderem auch Elias Canetti. Sehr erfolgreich übrigens, denn die drei Bände seiner Autobiografie begeisterten Leser und Kritiker gleichermaßen. Sie wurden zu Best- und Longsellern.

Die gerettete Zunge - Von Elias Canetti
Ein Königreich für ein Bild!

In „Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend“, dem ersten Band, behandelt Canetti, wie der Untertitel schon sagt, seine Jugendjahre und tastet sich von seinem Geburtsjahr 1905 bis in das Jahr 1921 hinein. Die Kinderjahre faszinieren vor allem durch ihre kulturelle Vielschichtigkeit: Seine Eltern stammten aus wohlhabenden sephardischen Kaufmannsfamilien – Juden, die ihre kulturellen Wurzeln in Spanien hatten und über die Türkei nach Bulgarien gezogen waren. Neben Spanisch und Bulgarisch wurde Englisch eine der wichtigen Sprachen in Canettis Leben, als die Familie nach Manchester zog. Nach dem überraschenden Tod seines Vaters kam schließlich Deutsch hinzu: Canettis Mutter zog mit ihren Söhnen 1913 nach Wien. Dieser erste Aufenthalt an der Donaumetropole wird nur drei Jahre dauern: 1916 geht es weiter nach Zürich, wo fünf Jahre später, mit dem Ausblick auf den Umzug nach Deutschland, „Die gerettete Zunge“ endet. Das bunt gezeichnete Kaleidoskop der Kulturen, verknüpft mit dem durch Kinderaugen betrachteten Ersten Weltkrieg, machen die Lektüre des 1977 erschienen Buches zu einer überaus spannenden Reise. Mit zwei weiteren Bänden wird Canetti sie fortschreiben: 1980 veröffentlichte er „Die Fackel im Ohr“, die Weiterführung seiner Lebensgeschichte bis in das Jahr 1931: Die Jahre in Frankfurt, aber vor allem jene in Wien stehen im Mittelpunkt, der Titel spielt auf die Zeitschrift „Die Fackel“ von Karl Kraus an. 1985 schließlich erschien „Das Augenspiel“, der Band, der sich mit den Jahren 1931 bis 1937 beschäftigt. Hier vor allem malt Canetti ein Bild Wiens, das die zentrale kulturelle Stellung dieser Stadt zwischen den beiden Weltkriegen aufleuchten lässt. Hier lernte er seine wichtigsten Kollegen und Freunde kennen, Fritz Wotruba, Anna Mahler, Robert Musil oder Hermann Broch. In dieser Zeit entstand sein wichtigstes literarisches Werk, der Roman „Die Blendung“, den Canetti 1936 noch veröffentlichen konnte. 1938, nachdem Hitler die Macht in Österreich übernahm, mussten Canetti und seine Frau Veza fliehen: Noch im selben Jahr gingen sie nach Frankreich und fanden sich 1939 in London wieder. Dort hielt Veza sie mit Übersetzungsarbeiten über Wasser, während Canetti sich für fast zwanzig Jahre in seinen Studien zur Psychologie der Massen vergrub. Erst 1960 wurde sein mehr als 500-seitiger Essay „Masse und Macht“, fertig. Veza Canetti starb im Jahr 1963 im Alter von 66 Jahren. Canetti lebte und arbeitete weiter in England. 1971 heiratete er die Kunstrestauratorin Hera Buschor und zog zu ihr in die Schweiz. Dort starb der Nobelpreisträger am 14. August 1994 – etwa ein Jahr vor seinem neunzigsten Geburtstag. Nach wie vor ist er nicht wegzudenken aus der Philosophie, der Literatur und aus Wien: Zurecht wurde 2010 in Favoriten die Canettistraße nach ihm benannt.

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