Die ganze Existenz aufs Spiel setzen

Edward Snowden setzte mit seinen NSA-Enthüllungen seine ganze Existenz aufs Spiel: Die Doku „Citizenfour“ von Laura Poitras ist ein historisches Dokument, das diese Ereignisse aufzeichnete
Interview: In ihrer tollen Doku "Citizenfour" dokumentiert Laura Poitras ihre erste Begegnung mit Edward Snowden.

Im Jänner 2013 erhielt die US-Journalistin und Filmemacherin Laura Poitras verschlüsselte eMails. Ein ihr Unbekannter schickte ihr unter dem Namen "Citizenfour" streng geheime Dokumente der nationalen Sicherheitsbehörde NSA. Erst im Juni stimmte der Unbekannte einem Treffen mit Poitras in Hongkong zu – gemeinsam mit Glenn Greenwald, Reporter bei The Guardian.

Poitras’ atemberaubende Doku "Citizenfour" (ab Donnerstag im Kino) dokumentiert diese historische Begegnung, in der Edward Snowden die geheimen Aktivitäten der NSA enthüllt.

KURIER: Ms. Poitras, Sie erhielten von einem Unbekannten – heute wissen wir, dass es Edward Snowden war – verschlüsselte eMails. Auch Glenn Greenwald erhielt sie, reagierte aber nicht. Sie schon. Wann war Ihnen klar, dass Sie auf keinen Schwindler hereinfielen?

Laura Poitras: Ich glaube, ich wusste es sofort, blieb aber trotzdem sehr vorsichtig. Der Unbekannte verwendete Begriffe, die nur von jemandem stammen konnten, der sich in Insiderkreisen der Geheimdienste bewegte. Gleichzeitig aber war ich in Sorge, dass es eine Falle der Regierung war. Es ist schwierig, Top-Secret-Angaben von jemandem zu überprüfen, die top secret sind. Er erwähnte beispielsweise "Boundless Informant" (unbegrenzter Auskunftgeber, Anm.), von dem wir heute wissen, dass es ein weltweites Überwachungsprogramm des US-Geheimdienstes ist. Aber damals hatte noch kein Mensch je davon gehört.

Wie haben Sie sich diese unbekannte Person vorgestellt?
Nachdem diese Person so unglaublich hochrangige Informationen hatte, dachte ich, sie würde etwas älter sein – vielleicht jemand in den Vierzigern (Snowden war 29, Anm.). Gleichzeitig aber war sie so computergeschult, dass mir klar war, es muss jemand sein, der damit aufgewachsen ist. Ich erwartete auch deshalb jemand Älteren, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein junger Mensch, der so viel zu verlieren hat, seine ganze Existenz aufs Spiel setzen würde.

Warum nannte sich Edward Snowden Citizenfour?
Das habe ich ihn auch gefragt: Er meinte, er wäre nicht der erste Whistleblower, der die geheimen Aktivitäten der NSA veröffentlichte, und er wollte sich mit seinen Vorgängern in eine Reihe stellen. Es sollte auch nicht um seine eigene Person gehen, sondern um die Sache selbst.

Mit Glenn Greenwald treffen Sie Snowden in einem Hotelzimmer und beginnen sofort zu filmen. War das so geplant?
Im Nachhinein ist mir klar, dass es ziemlich unhöflich war, sofort die Kamera zu zücken. Aber ich wollte die erste Begegnung zwischen Snowden und Greenwald einfangen. Wie ich Glenn kannte, würde er sofort zum Kern des Treffens kommen – und das wollte ich nicht verpassen. Es gab genügend Menschen, die mir massiv davon abrieten, nach Hongkong zu reisen. Die Anwälte der Washington Post beispielsweise, oder auch mein eigener Anwalt, der meinte, das Filmen könnte für mich riskant werden. Aber da alle Beteiligten so viel riskierten, war es einfach meine Aufgabe, die Geschehnisse zu dokumentieren. Da konnte ich mich nicht einfach höflich im Hintergrund halten.

Snowden hat für die NSA gearbeitet, muss also an diese Arbeit geglaubt haben. Wann, glauben Sie, war der Knackpunkt?
Ich habe ihm diese Frage gestellt, und er meinte, es war ein gradueller Prozess. Am Anfang war er von seiner Arbeit überzeugt. Aber Snowden ist jemand, der mit dem Internet aufgewachsen ist und an dessen positive Kraft glaubte. Das Internet hatte für ihn das Potenzial, Grenzen niederzureißen, eine neue Form der Kommunikation zuzulassen, die Welt zu verändern. Stattdessen wurde es dazu verwendet, Leute zu bespitzeln und zu kontrollieren. Ihm wurde klar, dass er durch seine Arbeit die Staatsmacht vergrößert – das hat sein Gewissen stark belastet.

Es gibt eine Szene in Ihrem Film, wo Präsident Obama sagt, Mr. Snowden sei kein Patriot.
Ich versuche, Filme zu machen, die komplexer sind als diese einfachen Zuschreibungen – jemand sei Patriot oder Nicht-Patriot. Für Edward Snowden war es ein bewusster Akt, mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir leben in einer Demokratie, und da haben die Leute ein Recht darauf zu wissen, was die Regierung so treibt. Das ist auch sein fundamentaler Vorwurf an die NSA – im Geheimen zu handeln, im Geheimen Gerichte abzuhalten und Gesetze auszulegen. Das ist für eine Demokratie nicht sehr gesund.

Es gibt Leute, die behaupten, dass sie von globaler Überwachung nicht betroffen sind, weil sie nichts zu verbergen haben.
Ich glaube, das stimmt einfach nicht. Wenn man diese Leute nach dem Passwort ihrer eMail fragt, oder danach, ob man in ihrer Wohnung Kameras installieren darf, werden sie garantiert Nein sagen. Jeder hat ein Grundbedürfnis nach Privatheit. Niemand will, dass die Regierung seine persönlichen Briefe mitliest.

Ihr Film fühlt sich an wie ein Thriller. Was sind Ihre Einflüsse?
Meine Filme sind vor allem von der Dokumentarfilmbewegung des Cinéma Vérité beeinflusst. Ich bin an Interview-Situationen interessiert, in denen die Dinge vor laufender Kamera passieren. Zum Beispiel die erste Begegnung mit Snowden in Hongkong: Ich wusste nicht, was von einer Minute auf die nächste geschehen wird – die Ereignisse entfalten sich in Echtzeit. Außerdem wollte ich in meinem Film ein Gefühl von allgegenwärtiger Gefahr erzeugen, als ob eine Invasion von Aliens bevorstünde. Es fühlte sich ja auch alles ein bisschen wie ein Thriller an – zuerst die verschlüsselten eMails, die Unsicherheit, wer dahintersteckt, die Gefahren des geheimen Treffens. Diese Spannung haben wir nicht im Schneideraum hergestellt, sie war Teil der Begegnung.

Am Ende gibt es einen Cliffhanger: Sie suggerieren, dass es noch einen weiteren Whistleblower innerhalb der NSA gibt.
Ich wollte nicht, dass der Film mit dem Gefühl endet, die Sache sei abgeschlossen und Snowden wäre relativ sicher in Moskau aufgehoben. Das Publikum soll spüren, wie prekär die Situation weiterhin ist.

"Citizenfour" ist mit einer Oscarnominierung im Rennen.
Bei einem Film, wo Menschen ihr Leben riskieren, geht es klarerweise nicht um einen Preis. Trotzdem: Ich arbeite als Journalistin, sehe mich aber als Filmemacherin – da wäre der Oscar eine große Anerkennung.

Sie haben schlechte Erfahrungen mit den US-Behörden bei Grenzübertritten gemacht und wurden regelmäßig verhört. Würden Sie Berlin verlassen und nach Los Angeles reisen?
Ja. In letzter Zeit ließ man mich wieder ungestört die Grenzen passieren.

Die ganze Existenz aufs Spiel setzen
Karriere
Laura Poitras, geboren 1962 in Boston, arbeitet als Dokumentarfilmerin, Journalistin und Künstlerin. Sie studierte in San Francisco beim Experimentalfilmer Ernie Gehr. 1992 wechselte sie nach New York, studierte Politologie an der New School und arbeitete als Filmemacherin. Sie drehte seither fünf Filme. Laura Poitras lebt und arbeitet derzeit in Berlin.

Film-Trilogie
"My Country, My Country" (2006), der erste Teil ihrer Film-Trilogie über die USA nach 9/11, befasste sich mit dem Irakkrieg und wurde für den Oscar nominiert. Auch ihr Film "The Oath" (2010) über Guantánamo erhielt Auszeichnungen. "Citizenfour" beendet die Trilogie. U. a. mit Glenn Greenwald gründete sie die Online-Publikation "The Intercept".

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