Der Archipel GULAG - Von Alexander Solschenizyn

Der Archipel GULAG - Von Alexander Solschenizyn
Alexander Solschenizyn nimmt den Leser mit beeindruckendem erzählerischen Können an die Hand und führt ihn durch die Gräueltaten des Stalinismus.

Nicht viele Bücher verdienen die Bezeichnung epochal, Alexander Solschenizyns "Archipel GULAG" trägt dieses Adjektiv aber zu recht. In ihm beschreibt der Literatur-Nobelpreisträger ein halbes Jahrhundert stalinistischen Terror, ja, er beschreibt ihn nicht nur, sondern er zeigt ihn uns: Den GULAG, eine Abkürzung für die russische Bezeichnung "Hauptverwaltung der Lager" oder "die Zone" – das waren die bereits seit den zwanziger Jahren in Russland entstandenen Konzentrationslager, die unter Stalin engmaschig das ganze Land bedeckten und unzählige Inhaftierte zu Tode schindeten.

Solschenizyn berichtet über die Entstehung und Entwicklung dieser Lager, zitiert Fakten und Zahlen, erzählt auch von seiner eigenen Lagererfahrung und Verbannung. Der zeitliche Rahmen führt dabei vom Ersten Weltkrieg bis 1967, jenem Jahr, in dem Solschenizyn das Buch vollendete. Nach der Lektüre des monumentalen Werks – drei Bände mit je 600 Seiten – ist die erste Reaktion: Sprachlosigkeit.

Was soll man sagen zu den Beschreibungen der gebräuchlichen Folter – von Prügel über Schlafentzug bis zur Wanzenbox, ein "dunkler Bretterverschlag mit einer hundertköpfigen, tausendköpfigen Wanzenzucht"? Was soll man sagen zu dieser Menschenverachtung, mit der Millionen von Menschen rein prophylaktisch ins Lager verschickt wurden? Und was zu den kaum glaubhaften Einzelgründen dieser Verschickung? Solschenizyn gibt haarsträubende Beispiele: Am Ende einer Parteikonferenz etwa fällt der Name Stalins, man steht – wie immer – auf und applaudiert, nur dass keiner sich getraut, mit dem Klatschen wieder aufzuhören. Fünf, acht, dann zehn Minuten tönt der Applaus, bis endlich der Direktor einer Papierfabrik erschöpft aufgibt und sich in seinen Sessel fallen lässt. Sofort folgen ihm alle anderen, aber der Direktor wird noch in derselben Nacht verhaftet: zehn Jahre Lager!

Großes literarisches Können

Der Archipel GULAG - Von Alexander Solschenizyn
Ein Königreich für ein Bild!

Der Sprachlosigkeit aber folgt Verblüffung: Wieso hat man das alles eigentlich gelesen, Seite um Seite, Schicksal um Schicksal? Solschenizyns literarisches Genie ist es, das uns weitermachen lässt. Ohne seine Sprachkraft würden wir schon nach den ersten Blicken auf die Gräuel des Lagerlebens das Buch zuklappen – angeekelt und entsetzt. Aber der 1918 bis 2008 lebende Autor packt uns auf zweifache Art: Zum einen spricht er seine Leserinnen und Leser direkt an und zieht sie so hinein in den Text: "Die Verhaftung! Soll ich es eine Wende in Ihrem Leben nennen? Einen direkten Blitzschlag, der Sie betrifft?" Zum anderen atmet der "Archipel GULAG" einen meisterhaften Zynismus, der die Beschreibungen menschlicher Boshaftigkeit wenn nicht erträglich, so doch ertragbar werden lässt: "Zivilisation? Dem Feind den Kopf einschlagen – das konnte auch der Höhlenmensch."

So nimmt uns Solschenizyn bei der Hand, führt uns wie Vergil seinen Dante durch die tiefsten Kreise der Hölle. Nur dass er uns kein Paradies als Alternative zeigen kann. Oder doch? Denn nach vielen hundert Seiten der Qual spricht der Autor von Läuterung, von einer, wenn auch geringen kleinen Chance der seelischen Entwicklung im Lager: "Sei gesegnet, mein Gefängnis!", schreibt er und fügt ironisch in Klammern an: "Und aus den Gräbern tönt mir die Antwort: Du hast leicht reden, du bist am Leben geblieben!"

"Der Archipel GULAG" ist ein großes Buch, eines das unsere Reihe "Die besten hundert Bücher" würdevoll beschließt. Denn es zeigt, wie viel mehr Literatur sein kann als eine Handvoll bedruckter Blätter. Solschenizyns Opus Magnum, im Verborgenen geschrieben, ständig auf der Hut, berührte die ganze Welt.

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