Das Abbruchhaus als Sehnsuchtsort

Gordon Matta-Clark: Splitting: Exterior, 1974
Werke aus der Wiener Sammlung Verbund erinnern in Brüssel an den Wert von Freiräumen

Brüssel ist kein Ort, an dem ungenutzte und unbeobachtete Plätze besonders erwünscht sind. Seit den Anschlägen auf den Flughafen im vergangenen März ist der Drang zur Bewachung aller urbanen Räume besonders hoch. Am Tag des KURIER-Besuchs gibt es eine Terrorwarnung, gepanzerte Fahrzeuge fahren im Zentrum vor, es wird spürbar, dass es heute nicht selbstverständlich ist, sich in einer Stadt frei bewegen zu können.

Dass im Palais des Beaux-Arts, kurz „Bozar“, gerade das Thema Raum und Stadt verhandelt wird, ist eine jener zufälligen Konstellationen, durch die sich die Wahrnehmungen von Kunst und Leben gegenseitig schärfen. Die Wiener Sammlung Verbund hat den KURIER nach Brüssel eingeladen – ihre Kunstbestände bilden bis 4. September das Herzstück des „Summer of Photography“, einem Ausstellungs-Event, der alle zwei Jahre stattfindet.

Geformter Raum als Skulptur

Das Abbruchhaus als Sehnsuchtsort
Sammlung Verbund / honorarfrei/genaue Credits TBA
Unter dem Titel „Open Spaces – Secret Places“ sind im Jugendstil-Palast rund 200 Werke ausgebreitet, die die Auseinandersetzung mit Räumen als ein Grundanliegen der bildenden Kunst seit 1970 vorführen. In einem Kunstverständnis, das Skulptur nicht mehr nur als geformten Gips oder Stein begriff, wurden Räume vermessen, geformt, geteilt – brachial etwa von Gordon Matta-Clark, der ganze Häuser zersägte, subtiler von Fred Sandback, der mit simplen Wollfäden neue Räume zeichnete.

Die Verbund-Sammlung konzentriert sich seit ihrer Gründung 2004 auf Kunst seit 1970; neben „Feministischer Avantgarde“ ist das Raum-Thema der zweite große Schwerpunkt, der in Brüssel nun seine bisher größte Präsentationsfläche erhält.

Das Bedürfnis nach alternativen Räumen, nach Gegenwelten, aber auch das Festhalten verschwindender Orte verknüpft in der Brüsseler Schau 40 Jahre alte Kunstwerke mit solchen jüngeren Datums. Doch auch ein Faden der Wehmut verbindet die Exponate: Denn der freie Umgang mit Leerräumen, Industriebrachen und urbanen Plätzen, der die Grundlage dieser Kunst bildete, scheint zunehmend ein Ding der Vergangenheit zu sein.

Das Abbruchhaus als Sehnsuchtsort
David Wojnarowicz Arthur Rimbaud in New York, 1978–1979 / 2004 Gelatine silver prints (from a series of 44) 32,8 x 24,5 cm © Estate of David Wojnarowicz / The SAMMLUNG VERBUND Collection, Vienna Courtesy Estate of P.P.O.W. Gallery, New York and Cabinet Gallery, London
Als die Werke entstanden, hatte man mit derlei nostalgischen Gefühlen wohl wenig am Hut: Als der Künstler David Wojnarowicz 1978/’79 einen Freund mit der Maske des Poeten Arthur Rimbaud in New York fotografierte, postierte er ihn tatsächlich in versifften Junkie-Wohnungen oder unter Brücken. Die Umwertung von Tristesse in Kunst war Notwendigkeit und hatte nicht den Beigeschmack gezielter „Aufwertung“, wie sie Immobilien-Entwickler heute verstehen.

Umwertung des Raums

Es spricht für die Sammlung und die Ausstellung, dass sie auch sichtbar macht, wie sich das Verhältnis von Kunst und Stadt änderte: Joachim Koester etwa spürte für ein Projekt Orte der Konzeptkunst auf und fotografierte sie nochmal – man erkennt New Yorker Häuser aus dem Besitz der Immobilien-Firma Shapolsky et.al., die 1971 Gegenstand einer skandalträchtigen Aufdecker-Recherche des Künstlers Hans Haacke gewesen waren. Die einst verslumten Bauten wirkten bei Koesters Besuchen (2003 – ’05) gut renoviert.

Eingriffe, die oft nicht auf Dauer ausgelegt waren, nehmen in der Rückschau unweigerlich eine stärkere Aura an – wobei die Brüsseler Präsentation auch die Sorgfalt der Verbund-Sammlung in der Erhaltung vor Augen führt, also in positivem Sinn „museal“ ist. Dass die Werke seit den 70ern auch große Wertsteigerungen erfahren haben, steht außer Frage. Doch ruhig gestellt wurden sie nicht: Gerade da, wo Freiräume nicht selbstverständlich sind, inspirieren sie mehr denn je dazu, sich zu bewegen und zu gestalten.

Kommentare