Wunderland und Western

Berliner Bauarbeiter im Bulgarien: "Western" von Valeska Grisebach.
Todd Haynes enttäuscht mit "Wonderstruck", Valeska Grisebach findet in Bulgarien den "Western".

Sicherheit ist in Cannes heuer besonders groß geschrieben. Mehrere Kontrollen wollen durchlaufen sein, ehe man frühmorgens im Kinosaal Platz nehmen kann. Zuerst marschiert man munter durch aufgebaute Metalldetektoren, dann wird der Körper noch einmal zusätzlich auf gefährliche Gegenstände abgehorcht. Zuletzt werden Rucksäcke und Taschen durchkämmt. Manche Security-Posten bleiben eher locker und werfen nur flüchtige Blicke, andere inspizieren den Inhalt von Geldbörsen und kassieren Hautcremen ein – "ärger als auf dem Flughafen", wie ein deutscher Journalisten-Kollege grimmig anmerkt.

Wunderland und Western
todd haynes

Dementsprechend zeitverzögert beginnen die Vorstellungen – am zweiten Festivaltag mit Todd Haynes’ mit großer Spannung erwartetem Wettbewerbsbeitrag "Wonderstruck".

Nach "Velvet Goldmine" und (vor zwei Jahren) "Carol" tritt Haynes heuer zum dritten mal in Cannes zum Kampf um die Goldene Palme an. Und seine Chancen stehen nicht schlecht: Der Präsident der diesjährigen Preis-Jury, Pedro Almodóvar, hatte verlauten lassen, seiner Ansicht nach wären die vom Streamingdienst Netflix produzierten Filme im Wettbewerb, die keinen Filmstarts in den Kinos haben, keine Anwärter auf die Palme. "Wonderstruck" aber ist keine Netflix-, sondern eine Amazon-Produktion – und hat daher auch einen Kinostart.

Außerdem zelebriert Haynes das Kino als einen Ort des kollektiven Gedächtnisses, wo – wie im Museum – wichtige Momente der Menschheitsgeschichte ihren Platz finden. Dazu benötigt er zwei Geschichten: Eine in Schwarzweiß, die im Jahr 1927 spielt und erzählt wird wie ein alter Stummfilm; und eine, die in den 1970er Jahren in New York stattfindet. Im Zentrum stehen zwei gehörlose Kinder, deren Schicksale sich zuletzt kunstvoll miteinander verweben.

Soweit, so langweilig.

Nosferatu

Nun ist Haynes als Ikone des US-Independent Films ein unwidersprochener Meister seiner Zunft. Sowohl seine kristalline Hommage an den Stummfilm (mit Verweise auf "Nosferatu") wie auch der charismatische Polaroid-Look seiner Bilder aus den 70er Jahren sind von unübersehbarer Schönheit. Auch die Idee, mehrere Generationen mittels Stumm- und Farbfilm zu verknüpfen und dabei die Geschichte verschiedener Aufbewahrungsorte – des Kino, des Museums – zu erzählen, zeugt von intellektueller Wucht (das Drehbuch stammt übrigens von Brian Selznick, auf dessen Roman auch Martin Scorseses ,Hugo‘ basiert).

Doch Haynes bleibt trotz aller Anstrengungen zu akademisch: Er beschwört eine Wundersamkeit, die letztlich geheimnislos ist, zwingt Handlungsstränge in widerspenstige Bahnen und neigt zur Rührseligkeit. Seine Fertigkeit, vergangene Zeitperioden herauf zu beschwören, ist bewundernswert, bleibt aber tendenziell lebloses Pastiche. Trotzdem sind ihm reale Preis-Chancen gewiss.

In der renommierten Reihe "Un Certain Regard" feierte die Deutsche Valeska Grisebach Premiere. Ihr mit Beteiligung der Wiener coop99 produzierter, schnörkelloser Spielfilm "Western" beobachtet deutsche Bauarbeiter bei ihrem Job in der Nähe eines bulgarischen Dorfes.

Das Gelände ist unwegsam wie im Western, die Dorfbewohner sind feindselig. Nur langsam weichen sich die Fronten auf. Grisebach beobachtet die Rituale der Männer untereinander mit genauem Blick – und erreicht dabei dokumentarische Klarheit.

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