Cannes-Resümee: Wettbewerbsfilme über Menschen ohne Mitleid

Diane Kruger in Fatih Akins Film "Aus dem Nichts"
Viele europäische Wettbewerbsfilme kreisen um die Empathielosigkeit.

Eines der niederschmetterndsten Filmbilder in Cannes war gleich ganz am Anfang des Festivals zu sehen: Eine junges Paar streitet. In fieser Niedertracht und mit schneidenden Stimmen. Beide wollten nichts wie weg aus der Ehe, beide haben bereits neue Partner. Bleibt nur ein Problem: Wohin mit dem gemeinsamen Kind? Keiner will den Buben haben, die Mutter nicht, und der Vater auch nicht. Während sich die Eltern mit Worten niedermetzeln, wandert die Kamera ins Badezimmer. Dort steht hinter der Tür im Halbdunkeln das weinende Kind: Dem Mund zum Schrei aufgerissen, Tränen überströmt und völlig lautlos.

"Loveless" ("Lieblos") nannte der Russe Andrey Zvyagintsev sein ruinöses Familienporträt, das gleich zu Beginn gezeigt wurde und als großer Preis-Favorit gilt. Mit seiner vernichtenden Kritik an einer ausschließlich an Profit und Geldgier orientierten Gesellschaft gab Zvyagintsev mit "Loveless" den Ton vor. Nach ihm folgte eine Reihe von Filmen im Wettbewerb, die zu ähnlich deprimierenden Einsichten gelangten: Es geht ein Gespenst um in Europa (und westlich orientierten Staaten), und das heißt Empathielosigkeit. Kein Mitleid mit niemandem, außer mit sich selbst. Die voran schreitende Kälte der (liberalen) Gesellschaft ist bis in die Keimzellen der Familie vorgedrungen und greift den innersten Kern an.

Lebensmüde

Davon erzählt uns Michael Haneke mit gezielter Präzision in seiner Farce "Happy End". Die Flüchtlingskrise tobt vielleicht vor der Haustüre, aber in den eigenen vier Wänden sind die lebensmüden Großbürger mit ihrem Weltschmerz beschäftigt.

Von gereizten Wutbürgern, die den Diebstahl ihres Handys nicht auf sich sitzen lassen können, berichtet Ruben Östlund: In "The Square", einer Kältestudie der Stockholmer Kunstwelt, bemühen sich zwar alle, verantwortungsvolle Menschen zu sein. De facto aber misstrauen sie selbst jenen, mit denen sie ins Bett gehen. In dem ungarischen Sci-Fi-Fiebertraum "Jupiter’s Moon" von Kornél Mundruczó schießt die Polizei auf Flüchtlinge; in Yorgos Lanthimos’ Horror-Komödie "The Killing of a Sacred Dear" schießt der Vater auf die eigenen Kinder: Der Gesellschaftspakt unserer Zivilgesellschaft löst sich auf, die Entsolidarisierung macht nicht einmal mehr vor dem eigenen Nachwuchs halt.

Regisseure wie Haneke, Zvyagintsev oder Östlund erzählen diese Kältemodelle mit den Mitteln des modernistischen Kinos in kühlen und reduzierten Bildern. Einen ästhetisch anderen Weg, aber mit nicht weniger tristem Ausblick, beschreitet Sergei Loznitsa mit seinem Russland-Albtraum "A Gentle Woman" ("Eine sanfte Frau"): Kafka lässt grüßen, wenn sich eine Frau auf den Weg macht, um ihren Mann im Gefängnis zu besuchen. Die Vertreter der Behörden erweisen sich als Lügner, jede Busfahrt wird zum Spießrutenlaut. Am Ende steigert Loznitsa seinen infernalischen Realismus zu einem karnevalesken Fiebertraum mit grausamem Ende: Die russische Seele, sie ist ein schwarzes Loch.

Eine düstere Prognose liefert schließlich auch Fatih Akin mit seinem Rache-Drama "Aus dem Nichts", dem einzigen deutschen Beitrag im Wettbewerb. Eine überzeugende Diane Kruger spielt darin eine Mutter, deren Mann und Kind von Nazi-Terroristen getötet werden. Akin reagiert damit auf die Morde von Rechtsextremen an Türken und Kurden: deren Taten wurden in Deutschland lange den Angehörigen der Opfer in die Schuhe geschoben. Doch so ehrenwert sein Anliegen ist, wirkt "Aus dem Nichts" über weite Strecken wie ein ambitionierter "Tatort". Schablonenhaft und didaktisch, nimmt das Drama gegen Ende an Fahrt auf, bleibt jedoch letztlich im Betroffenheitskino stecken.

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