Billy: "Weinen soll das Publikum, nicht ich"

Billy: "Weinen soll das Publikum, nicht ich"
Am Sonntag hat Giuseppe Verdis "La Traviata" Premiere. Mit Natalie Dessay als Violetta, Bertrand de Billy dirigiert. KURIER traf sie zum Interview.

Lokalaugenschein in der Wiener Staatsoper. Die Endproben zur Premiere von Verdis "La Traviata" sind gelaufen. Bertrand de Billy dirigiert; Natalie Dessay singt die Titelpartie. Ein halbes Doppelinterview.

KURIER: Jeder Opernfreund kennt "La Traviata", das Orchester hat diese Oper unzählige Male gespielt. Was kann ein Dirigent da tun?

Bertrand de Billy: Jeder glaubt nur, dieses Werk gut zu kennen. Natürlich hat das Orchester Verdi extrem oft gespielt. Aber im Laufe der Jahre haben sich viele Ungenauigkeiten eingeschlichen. Man muss sich nur die Partituren ansehen, die über die Jahre hinweg verwendet wurden. Jeder Dirigent hat da so seine Eigenheiten hinterlassen, und auch die Wünsche der jeweiligen Sänger fanden da ihren Niederschlag. Nun muss man bei einer Neuproduktion diese manchmal sehr willkürlichen Zutaten entfernen und wieder mehr den Komponisten ins rechte Licht rücken.

Und wie geht das?
Ich habe eine neue, revidierte Partitur verwendet, die genau dem entspricht, was Verdi wollte. Er hat ja gerade diese Oper sehr genau und auch oft extrem bezeichnet - sowohl was Tempo, als auch was Dynamik und Ausdruck betrifft. Wenn man das umzusetzen versucht, klingt "La Traviata" zum Teil ganz ungewohnt und wieder neu.

Das hört sich nach einer Verdi-Entdeckungsreise an.
Ich bin sehr froh, dass ich das Orchester so gut und lange kenne, sodass ich mit den Musikern wirklich etwas neu erarbeiten konnte. Das geht mit gegenseitigem Vertrauen und der Bereitschaft, sich auch auf Ungewohntes einzulassen.

Wie sehen Sie diese Oper, was ist das Neue daran?
Das beginnt bei der Dynamik, setzt sich weiter fort bei den Tempi und besonders auch im Ausdruck. Viele "Traditionen", die sich über die Zeit eingeschlichen haben, laufen dem Willen des Komponisten oft diametral zuwider. Die scheinbar heiteren Szenen sind gar nicht so heiter, sondern eher sehr zynisch gemeint. Verdi legt auch musikalisch die Doppelmoral einer Gesellschaft offen. Für mich ist "La Traviata" ein einziger Totentanz.

(Natalie Dessay kommt zum Interview dazu)
De Billy: Du kommst aufs Stichwort .. .
Natalie Dessay: Wieso? Ich bin ein bisschen zu spät, aber du hast sicher schon alles gesagt. Oder?

Wir haben gerade festgestellt, dass "La Traviata" ein Totentanz ist. Oder wie sehen Sie die Rolle der Violetta?
Dessay: Das ist ein hochaktueller Stoff. Violetta muss aus gesellschaftlicher Konvention auf ihren geliebten Alfredo verzichten. Das gibt es heute ja auch noch, dass zwei Menschen aufgrund rassischer, politischer oder religiöser Unterschiede nicht zusammenleben dürfen. Insofern hat sich nicht viel geändert. Bei Verdi ist Violetta eben eine Edelkurtisane, die dem bürgerlichen "Glück" von Alfredos Familie im Weg steht.

Also opfert sich Violetta für Alfredo auf?
Dessay: Sagen wir so: Sie stirbt sicher nicht an ihrer Krankheit.

Eine intensive Rolle, bei der man sehr viel spielen kann und muss ...
Dessay: Deswegen mag ich die Partie auch sehr. Ich kann schauspielern ...

Sie haben unlängst erklärt, dass Sie sich ganz von der Opernbühne zurückziehen wollen. Warum denn das?
De Billy: Das hast du aber nicht ernst gemeint ...
Dessay: Doch. Und das hat mehrere Gründe. Meine Stimme ist eine Richtung gegangen, in der es sehr wenige Rollen für mich gibt. Eine "Tosca" - da komme ich nicht hin. Eine Tatjana in "Eugen Onegin", die ich wirklich gerne singen würde, ist für mich unerreichbar.

Warum gerade die Tatjana?
Dessay: Ja. Ich habe mir hier an der Staatsoper "Eugen Onegin" angesehen, und ich musste weinen, weil es so schön war.

Aber Ihre Stimme kann sich ja noch in diese Richtung entwickeln ...
Dessay: (lacht) Was soll sich da noch entwickeln? Ab einem gewissen Alter entwickelt sich die Stimme einfach nicht mehr. Außerdem gibt es noch einen Grund. Als Sängerin muss man immer bei "bonne santé" sein. Man darf sich keine Krankheiten, man darf sich nichts erlauben. Das ist ein großer Druck, der beim Theater nicht so gegeben ist. Da kann man auch spielen, wenn man ein bisschen krank ist. Außerdem möchte ich reiten, Yoga machen und Russisch lernen. Das hat mich schon immer fasziniert.

Und Theater? Wo und was würden Sie gerne spielen?
Dessay: In Frankreich. Und unbedingt Komödie. Feydeau zum Beispiel, wäre ein Traum. Komödie zu spielen ist ja viel schwerer, als Tragödie zu machen. Das würde mich reizen. Aber letztlich kommt es immer auf das Umfeld, auf die Partner an. So war jetzt die Begegnung mit Jean-François Sivadier - dem Regisseur der "Traviata"-Produktion, die ich ja wirklich sehr mag - sehr wertvoll. Mit Leuten wie ihm möchte ich auch im Sprechtheater zusammenarbeiten. Und ich bin auch sehr froh, dass Bertrand die "Traviata" dirigiert. Mit ihm zu arbeiten, ist eine Freude.
De Billy: Das kann ich nur zurückgeben ...

Andere Frage, Frau Dessay: Nehmen Sie Ihre Rollen emotional mit nach Hause?
Dessay: Nein! Das wäre ja schrecklich, wenn dem so wäre. All diese Frauenfiguren bei mir daheim, in mir - bitte nicht! Ich gebe die Rolle meistens schon in der Garderobe ab. Das ist wie auf der Bühne: Nicht ich als Violetta soll weinen. Weinen soll das Publikum. Das muss unser Ziel sein. Wir machen unsere Arbeit mit höchster Konzentration und können hoffentlich Gefühle vermitteln. Ein auf der Bühne weinender Sänger - das geht gar nicht.

Info: "La Traviata" von Giuseppe Verdi.

Inszenierung: Jean-Francois Sivadier.
Bühnenbild: Alexandre de Dardel.
Kostüme: Virginie Gervaise.
Dirigent: Bertrand de Billy.
Mit u. a.: Natalie Dessay (Violetta), Charles Castronovo (Alfredo), Fabio Capitanucci (Germont).
Premiere: 9. Oktober.
Reprisen: 12., 15., 18., 21., 24. Oktober.

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