"Ich wollte keine Toten filmen"

Seefeuer von Gianfranco Rosi
Berlinale-Gewinner Gianfranco Rosi über seine Flüchtlings-Doku "Seefeuer"

60 Jahre mussten vergehen, damit bei den Filmfestspielen in Berlin, der Berlinale, der wichtigste Preis an einen Dokumentarfilm ging. Für dieses historische Ereignis sorgte der italienische Filmemacher Gianfranco Rosi, der mit seiner Dokumentation "Seefeuer" ("Fuocoammare") die internationale Jury überzeugte. Darin erzählt der Regisseur vom Flüchtlingselend auf der Insel Lampedusa. Diese Woche (29. 7.) startet die Doku in den österreichischen Kinos.

KURIER: "Fuocoammare" wurde bei der Berlinale zu einem politischen Statement hochstilisiert. Wie politisch ist Ihr Film?

Gianfranco Rosi: Es ist kein politischer Film. Er gibt keine Antworten, stellte keine Fragen, klagt niemanden an und verfolgt auch keine bestimmte Ideologie. Ich lasse dem Zuseher hingegen den nötigen Raum, sich selbst Gedanken über diese Thematik zu machen. Ich wollte auch keine klassische Dokumentation drehen, denn wir werden ohnehin täglich mit so vielen Informationen zum allgegenwärtigen Flüchtlingsthema versorgt. Was ich erzeugen wollte, sind Emotionen.

Was war beim Dreh wichtig?

"Ich wollte keine Toten filmen"
Gianfranco Rosi
Der Film beruht auf drei Säulen. Da ist die Geschichte über die Insel, eine über die Migranten und die dritte greift die Rahmenbedingungen auf, die von der europäischen Politik in Brüssel gelegt werden.

Wie beurteilen Sie diese Rahmenbedingungen?

Das Problem ist, dass die Politik sich nicht um die Probleme der Flüchtlinge im Allgemeinen und im Speziellen um die Situation im Mittelmeer und auf der Insel Lampedusa kümmert. Aber ich bin kein Experte in Sachen Flüchtlingsfragen und ich wollte es auch nie sein. Ich widme mich in meinen Filmen immer wieder anderen Sachen. Das ist mir sehr wichtig. Bei einem Thema zu bleiben, langweilt mich.

In Österreich schüren Populisten Ängste über Flüchtlinge. Wie sieht es auf Lampedusa mit Ängsten aus?

Die Leute auf Lampedusa haben keine Angst vor Flüchtlingen. Denn es ist eine Insel voller Fischer. Und Fischer begrüßen alles, was das Meer ihnen bringt. Auch Flüchtlinge. Deshalb sollten wir uns alle ein Beispiel an den Fischern auf Lampedusa nehmen. Angst haben sie da mehr vor der Ankunft von Journalisten. Denn wenn Journalisten kommen, dann berichten sie ausschließlich über die Tragödien, die Flüchtlingsproblematik und die Toten im Mittelmeer. Damit machen sie Negativwerbung für die Insel und die Einwohner Lampedusas, die vom Tourismus leben. Das ist eine Katastrophe.

Auf Lampedusa scheinen sich Flüchtlinge und Inselbewohner kaum in die Quere zu kommen.

Da sich die Grenzen aufs Mittelmeer verschoben haben und dort bereits die Aufnahmerituale stattfinden, ist Lampedusa nicht mehr der Ort, an dem viele Flüchtlinge ankommen, sondern eine große Erstaufnahme-Einrichtung. Die Flüchtlinge werden erst ans Ufer gebracht, dann in Bussen in die Lager auf der anderen Seite der Insel gebracht. Dadurch sind sie vom Leben der Inselbevölkerung isolierter.

Hatten Sie uneingeschränkten Zugang zu der Erstaufnahme-Einrichtung?

Ich habe sehr viel Zeit im Flüchtlingslager verbracht, hatte immer und uneingeschränkten Zugang. Mit zwei Ausnahmen habe ich die Flüchtlinge immer gefragt, ob ich sie filmen darf. Ungefragt habe ich sie gefilmt, als sie von den zuständigen Sicherheitsleuten fotografiert und nach Waffen oder anderen illegalen Gegenständen durchsucht wurden. In diesem Moment merkt man besonders, wie unsicher und beobachtet sie sich fühlen.

Die Rolle des Protagonisten wird von einem Buben namens Samuel übernommen.

Wir haben nicht von vornherein gewusst, dass Samuel so eine wesentliche Rolle im Film einnehmen wird. Nachdem ich einige Tage mit ihm verbracht habe, wurde mir aber klar, dass er etwas Besonderes ist. Ich habe immer wieder kleine Episoden aus seinem Alltag aufgenommen. Schlussendlich haben wir ein Jahr miteinander verbracht und uns gut kennengelernt. Er hat mir nach und nach immer mehr vertraut, sich geöffnet und dabei zunehmend die Kamera vergessen. Dadurch ist ein authentisches Bild entstanden.

Sie wurden auch mit Toten und Verletzten konfrontiert. Warum ist davon im Film nur wenig zu sehen?

Ich war beinahe jeden Tag mit Flüchtlingen konfrontiert, die von ihrer Flucht stark gekennzeichnet waren. Viele hatten schwere Verbrennungen am ganzen Körper von auf dem Boot auslaufendem Benzin, der Sonne und dem Salzwasser. Ich filmte jeden Tag entstellte Körper, aber Tote wollte ich anfangs nicht filmen. Erst als ich bei der Rettung von Flüchtlingen mit der Kamera dabei war, und mit Dutzenden Leichen im Rumpf eines Bootes konfrontiert wurde, wusste ich, das ist der Schlusspunkt meines Films.

Welcher Moment ist Ihnen bei den Dreharbeiten besonders in Erinnerung geblieben?

Wenn die Flüchtlinge aus Nigeria gemeinsamen über ihre Erlebnisse auf der Flucht singen. Es ist ein Trauergesang mit enormer Kraft. Für mich ist das auch der beste wie intensivste Moment meines Films.

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