Castorfs Publikumsbeschimpfung

Castorfs Publikumsbeschimpfung
Ein Plädoyer für den neuen Bayreuther "Ring des Nibelungen" von Kirill Petrenko und Frank Castorf.

Peter Handke war 1966 der erste, der eine „Publikumsbeschimpfung“ auf die Bühne brachte. Nun gibt es ein weiteres Stück zu diesem Thema: Die Version von Frank Castorf, uraufgeführt bei den Bayreuther Festspielen, als vierter Aufzug nach Richard WagnersGötterdämmerung“. Wer weiß, vielleicht entwickelt sie ja bald ein Eigenleben und wird auch von Claus Peymann inszeniert und in zahlreichen Theatern nachgespielt.

Was ist passiert? Nach dem Finale des Jubiläums-„Ring“ in Bayreuth, nach 15 Stunden Musik und optischer Verfremdung, trat der Regisseur mit seinem Team erstmals vor den Vorhang. Der Buhorkan, der ihn empfing, war gewaltig – aber es gab auch zahlreiche Bravo-Rufer. Mindestens fünf Minuten lang blieb Castorf ruhig stehen und ließ alles über sich ergehen. Weitere fünf gestikulierte er Richtung Zuschauerraum, animierte die Besucher, noch heftiger zu protestieren. Und zeigte ihnen sogar den Vogel.

Der Buhmann bleibt

Dann schaute Dirigent Kirill Petrenko fast schüchtern hinter dem Vorhang vor, ob Castorf nicht gewillt sei, wieder Platz zu machen. Er war es nicht und blieb auch noch, insgesamt mindestens 25 Minuten, stehen, nachdem der Vorgang wieder aufgegangen war und sich Sänger und Musiker verbeugten. Castorf schaltete sein Handy ein und wartete, bis das Publikum abzog. Er selbst war gekommen, um zu bleiben.

Der Intendant der Berliner Volksbühne schien seinen Auftritt richtig zu genießen. Die Buhs waren sicher das, was er erwartet hatte. Als Reaktion konnte er dem Bayreuther Publikum sagen, was er von ihm hält: nicht viel.

Dass Castorf sogar die Applausordnung dekonstruierte und quasi ein Stück nach dem Stück einzog, war der finale Höhepunkt einer zutiefst dekonstruktivistischen Arbeit. Castorf misstraut allem, vor allem Ideologien. Er hinterfragt jedes Detail und Klischee. Er klopft das Libretto daraufhin ab, was übrig bleibt, wenn man genau das Gegenteil als Behauptung auf die Bühne bringt. Und das Erstaunliche daran ist: Es überlebt fast alles.

Castorfs Publikumsbeschimpfung
In der „Götterdämmerung“ etwa lässt er Siegfried müde schlafen gehen, wenn Brünnhilde „Zu neuen Taten“ singt. Die Nornen weben nicht die Schicksalsfäden, sondern veranstalten satanistische Aktionen. Der Trauermarsch gilt nicht Siegfried, sondern Hagen, der währenddessen auf einem Video (genial die Einspielungen von Andreas Deinert und Jens Crull) durch den Wald spaziert und am Ende im Schlauchboot im Rhein treibt. Oder doch im Ganges, in eine andere Welt gleitend? Hagen ist hier der Held – was richtig ist, wenn man auch Helden misstraut.

Die Gibichungenhalle ist eine Kebab-Bude in Berlin, nahe der Mauer, Gunther ihr Besitzer, Hagen ein Schlägertyp mit Irokesen-Bürste. Das Finale findet vor der New York Stock Exchange statt, die zunächst eingepackt ist wie von Christo, dann enthüllt wird und am Ende vom Feuer bedroht ist. Die Wall Street als Walhall – keine neue Erkenntnis, aber stets richtig.

Wagner bleibt

Neben der Überprüfung der Wagner’schen Gültigkeit für unsere Zeit, neben der aufwendigen Bühne (Aleksandar Denić), neben der Radikalität, neben unzähligen Anspielungen auf Filme (u. a. die Szene aus „Panzerkreuzer Potemkin“, bei der ein Kinderwagen davonrollt), neben Genialitäten und Banalitäten, neben Fragen und Rätseln sowie dem inszenatorischen Stinkefinger Richtung Wagnerianer, wird von dieser Arbeit aber auch eine präzise Auseinandersetzung mit der Person Wagner bleiben.

In Castorfs „Ring“ geht es um Kapitalismus und Revolution – für beides steht auch Wagner. In diesem „Ring sind die Männer Egozentriker, lieben viele Frauen und Geld – wie Wagner. Siegfried trägt zu Beginn sogar einen pelzbesetzten Mantel – wie Wagner.

Der Autor dieser Zeilen war nicht der Einzige, der im Vorfeld dachte, die Wahl für diesen Regisseur komme zehn Jahre zu spät. Dabei hat Castorf Wagner in dessen 200. Geburtsjahr endgültig ins 21. Jahrhundert katapultiert – und das große Werk hat unbeschadet überlebt. Wagner-Inszenierungen brauchen einen ideologischen, philosophischen, politischen oder theologischen Überbau. Wer diesem „Ring“ fehlender Logik vorwirft, möge nur die Wagner-Libretti auf Logik überprüfen.

Was definitiv bleibt vom neuen Bayreuther „Ring“, dem besten seit jenem von Patrice Chéreau und Pierre Boulez 1976, ist das Dirigat von Kirill Petrenko. Ihn verbindet zumindest ein Zugang mit Castorf: Auch im Orchestergraben werden viele einzelne Geschichten erzählt und die Sänger von dort aus bestens geführt, ja getragen. Petrenko entwickelt dazu aber auch den großen Bogen sowie prachtvolle Klangfarben, von den 136 Takten in Es-Dur im „Rheingold“-Vorspiel bis zu Brünnhildes „Starke Scheite“ in der „Götterdämmerung“.

Die Streicher spielen enorm präzise, die Holzbläser sogar atemberaubend. Und mit dem Blech geht Petrenko nur dann großzügig um, wenn es dramaturgisch vonnöten ist. Seine Tempi sind für ihn recht langsam, zelebrierend, aber nie schleppend. Er lotet feinste Schattierungen aus, dirigiert dynamisch höchst differenziert und kann mit der Bayreuther Akustik schon bei seinem Debüt sehr gut umgehen. Seit 2008 war er jedes Jahr bei Proben seiner Kollegen hier, um sich vorzubereiten.

Manche Sänger bleiben

Was die Sänger betrifft, bleibt der neue Wotan-Typus von Wolfgang Koch sicher in Erinnerung, der stimmlich strahlende Siegmund von Johan Botha, die Sieglinde von Anja Kampe, der fabelhaft spielende (und auch singende) Alberich von Martin Winkler und der intensive Loge von Norbert Ernst. Sowie die Brünnhilde von Catherine Foster, die Kraft bis zum Finale hat, dafür aber nie die vokale Eleganz opfern muss.

Dass die Besetzung nicht durchwegs erstklassig ist, zeigte sich jedoch ganz stark bei der „Götterdämmerung“. Lance Ryan als Siegfried singt mit seinem eindimensionalen Tenor oft am Limit, kaum eine schöne Phrase ist zu hören. Der dritte Aufzug der „Götterdämmerung“ ist sein bester, da wählt er mehrfach das Falsett statt andauernder Attacke. Als Darsteller hat er jedoch große Präsenz. Alejandro Marco-Buhrmester ist unterbesetzt als Gunther und Attila Jun ein viel zu schwacher Hagen. Es ist anzunehmen, dass, wenn es einmal Bild- und Tonträger davon gibt, die DVD der CD wegen mancher Sänger vorzuziehen sein wird.

KURIER-Wertung:
****
von ***** (für „Götterdämmerung“)
**** von ***** (für den ganzen „Ring“)

Alle bisherigen Bayreuth-Kritiken gesammelt (hier).

Gert Korentschnig war telefonisch live zu Gast bei Radio Stephansdom. Seine "Götterdämmerung"-Kritik und seine "Ring"-Bilanz zum Nachhhören:

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