Auch die Skater gehen in die Oper

Ein Plädoyer für das musikalisch und visuell Neue: Szene aus „Benjamin, dernière nuit“ von Michel Tabachnik und Régis Debray
Wie Intendant Serge Dorny mit packendem Musiktheater die Jugend in sein Haus bringt.

Gekreische, Gejohle, rhythmisches Klatschen und anerkennende Pfiffe – das Publikum tobt. Nein, wir befinden uns nicht beim Konzert irgendeines angesagten Popstars. Wir befinden uns in der Opéra de Lyon. In jenem seit 2003 von Serge Dorny geleitetem Haus, das im Inneren der neoklassizistischen Fassade dank Rolltreppen, Fahrstühlen und der von Architekt Jean Nouvel in Schwarz gestalteten Innenräume mehr an ein futuristisches Einkaufszentrum samt Kino-Atmosphäre erinnert.

Oper ist cool

Und die vielen Teenager im Zuschauerraum toben nach einer konzentrierten, qualitativ hochwertigen Premiere (siehe Kritik unten) von Jacques Fromental Halévys knackigem Vierstünder "La juive", so wie sie es am Vortag nach der Uraufführung von "Benjamin, dernière nuit" (siehe Kritik unten) auch gemacht haben. "Jeder vierte unserer Besucher ist unter 25 Jahre alt", sagt Intendant im KURIER-Gespräch. Der Grund dafür, dass Oper in Lyon bei den Teenagern als cool gilt? Dorny: "Wir holen die Menschen ab, gehen in Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse und auf die Straßen der banlieuses", also in jene sozial problematischen Vororte, die in Frankreich mehr als einmal gebrannt haben.

Dorny weiter: "Wir bekommen Geld vom Staat, also haben wir eine Bringschuld gegenüber den Menschen, sie zu einem wichtigen Teil unserer Gesellschaft zu machen, in unsere Gemeinschaft zu integrieren und sie weg von den Straßen zu holen." Das Musiktheater der Gegenwart – mit durchaus starker Betonung auf "Theater" – müsse heute politisch sein, erklärt Dorny. Aber: "Nicht politisch im Sinne im von Tages- oder Parteipolitik, sondern im Sinne des griechischen Wortes ,polis‘, also der menschlichen Gemeinschaft."

In Lyon setzt der gebürtige Belgier bei einer Auslastung von 94 Prozent auf ein Stagione-System, das "Vorteile" hat. Denn, so der 54-Jährige: "Wenn man ein Repertoire-System hat, besteht auch die Gefahr, dass Oper etwas Alltägliches wird und nur mehr routiniert abgespult bzw. konsumiert wird."

Und Dorny setzt Zeichen. Etwa mit dem aktuell laufenden "Festival für die Menschlichkeit", das neben den bereits genannten Werken noch Viktor Ullmanns "Der Kaiser von Atlantis" und Hans Krásas "Brundibár" vorstellt. All das geschieht jedoch unverkrampft, und so schauen sogar die vor dem Haus herumfahrenden Skater immer wieder bei Vorstellungen vorbei. Das sogenannte "bürgerliche Publikum" hat sich längst daran gewöhnt, man lebt ein fröhliches Miteinander zwischen Krawatte und T-Shirt.

Oper ist neu

Programmtisch setzt Dorny neben Bekanntem auch auf Uraufführungen. "Wir dürfen doch nicht immer das Alte, egal, wie gut es auch ist, nachspielen. Ich finde, wir haben im 21. Jahrhundert die Pflicht, auf unsere Gegenwart einzugehen. So zu tun, als ginge uns das, was draußen in der Welt passiert, nichts an, ist das falsche Zeichen. Die Oper darf sich nicht im Elfenbeinturm verstecken. Wenn sie da tut, verliert sie ihre Legitimation."

Diese Haltung ist mit ein Grund, weshalb Dorny gern auf Regisseure mit gesellschaftspolitischen Anliegen setzt. Romeo Castellucci, mit dem Dorny eine eben langjährige Zusammenarbeit vereinbart hat, ist nur einer von ihnen. Und wie lange bleibt Dorny in Lyon? "Solange es sich für alle Seiten gut anfühlt. Zu tun gibt es genug."

Eine Oper über den deutschen Philosophen, Kulturkritiker und Übersetzer Walter Benjamin (1892–1940), der sich auf der Flucht vor den Nazis in Portbou das Leben nahm – das kann leicht zu einem faden Stationendrama werden. Nicht so bei Michel Tabachnik (Musik) und Régis Debray (Text), die sich Benjamin in 14 Szenen assoziativ und emotional nähern.

Der Schweizer Komponist und der französische Autor (und einstige Kampfgefährte Che Guevaras) haben mit „Benjamin, dernière nuit“ eine meisterhafte Collage an Stimmungen, Traumsequenzen und Zeitkolorit geschaffen. Im Angesicht seines Todes lässt Benjamin (es gibt einen Schauspieler und einen Sänger in dieser Rolle) sein Leben Revue passieren oder träumt sich in nie erlebte Begegnungen hinein.
Bert Brecht und Hannah Arendt, André Gide und Max Horkheimer – sie alle haben ihre Szenen mit Walter Benjamin. Musikalisch setzt Tabachnik auf situationsbezogene Musik. Irgendwo zwischen Pierre Boulez und Iannis Xenakis ist dieser packende Klangkosmos angesiedelt, auch Zitate von jüdischen Gesängen über Charles Trenet bis zu „Lilli Marleen“ kommen vor. Das ist aber nie eklektisch, sondern immer homogen und wird von Bernhard Kontarsky sowie Chor und Orchester der Oper Lyon fabelhaft umgesetzt.

Regisseur John Fulljames hat in Michael Levines tollem (Video-)Bühnenbild ein Museum der Erinnerungen geschaffen, das den meist guten Interpreten einen optisch betörenden Rahmen gibt.

Frankreich den Franzosen!“, „Schließt die Grenzen!“ und „Tod den Ausländern“ prangt auf den Schildern einer Gesellschaft, die zur „Rettung des christlichen Abendlandes“ vor keinem Mittel zurückschreckt, die in der Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger längst zu einer faschistoiden Gesellschaft geworden ist.

Es sind Bilder wie diese, mit denen Regisseur Olivier Py die Oper „La juive“ von Jacques Fromental Halévy verstörend-gut, aber nie plakativ auf ihre Zeitlosigkeit abklopft. Im gigantischen, sich stets drehenden Bühnenrahmen von Pierre-André Weitz erzählt Py das tragische Geschehen rund um den Juden Eléazar, dessen den Christen Leopold liebende Tochter Rachel und dessen Feind Kardinal Brogny in kühlen, beinahe farblosen Szenen als Abgesang auf die Humanität.

Das ist stringent, lebt von einer starken Personenführung und einem sensationellen Ensemble. An der Spitze der Tenor Nikolai Schukoff als sehr junger, fabelhaft singender Halévys und die famose Sopranistin Rachel Harnisch in der Rolle der Rachel. Aber auch Enea Scala (ein Leopold mit tollen Höhen), Sabina Puértolas als vokal eindrucksvolle, sexy Eudoxie und der mit herrlichen Tiefen auftrumpfende Roberto Scandiuzzi als Brogny überzeugen mühelos.

Großartig der Chor und das Orchester der Opéra de Lyon, die unter der Leitung ihres designierten Chefdirigenten (ab 2017/’18) Daniele Rustioni zur Höchstform finden. Musiktheater, das unter die Haut geht.

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