Auch auf 200 Metern siegt Raymond Carver

Auch auf 200 Metern siegt Raymond Carver
Der Amerikaner galt als Minimalist. Aber seine Texte waren drastisch gekürzt worden. Hier sind sie zum ersten Mal in voller Länge.

Es gab zwei Raymond Carver. Der eine ist weltberühmt, weil seine Alltagskurzgeschichten wie Skelette dahergekommen sind.

Meist sind sie betrunken dahergekommen. Carver war – die letzten zehn Jahre trockener – Alkoholiker.

Die Geschichten hatten (logischerweise) kein Fleisch und kein Herz, und man sagte jeweils nach den fünf, zehn Seiten: Das kann doch nicht alles gewesen sein!

Aber man fühlte: Kein einziges zusätzliches Wort war notwendig.

Im S. Fischer Verlag heißt es: Raymond Carver ist immer 100 Meter gelaufen.

Er gewann jedes Rennen.

Gestrichen

Auch auf 200 Metern siegt Raymond Carver

Längst ist bekannt, dass sein Lektor und Literaturagent an den kurzen Strecken beteiligt war. Gordon Lish hat Carver gestoppt, damit der nicht nach dem Ziel weiterlaufen konnte. Er hat 30, 40, einmal sogar 70 Prozent von den Texten gestrichen; und gern den ganzen Schluss gekürzt, um die Dramen noch geheimnisvoller zu machen.

Gish darf sich als Mitautor fühlen; aber ein bissl auch als "Gauner". Carver war verzweifelt, gab jedoch letztlich Ruhe – wegen des großen Erfolgs.

Er starb 1988, 55-jährig, an Lungenkrebs.

Gordon Lish ist heute 78. Seine eigenen Bücher verkauften sich nicht so gut.

Jetzt lernen wir den zweiten Raymond Carver kennen. Seine Witwe hat die Rekonstruktion erlaubt und unterstützt.

Der kalte Zauber ist weg, keine Frage, und in den USA waren die meisten Kritiker entsetzt.

Weil die sitzen ja mit beiden Versionen am Schreibtisch und vergleichen. Das machen "normale" Leser nicht. Denen bleibt auch beim Zuschauen eines Carver’schen 200-Meter-Laufs die Luft weg.

Er war ja kein geschwätziger Schriftsteller. Er wollte bloß kein Minimalist sein. Er wollte, dass die Personen, von denen er erzählte, lebendiger sind. Namen haben. Weinen können. Und zwischendurch duschen.

Die Sammlung "Beginners"(Anfänger) hieß früher, wegen Lish, "What We Talk About When We Talk About Love".

Nehmen wir gleich diese titelgebende Kurzgeschichte. Da reden zwei Ehepaare über die Liebe. Ein Meisterwerk. So und so. Einer, ein saufender Arzt, erzählt von einem alten Ehepaar, das nach einem Autounfall im Spital ums Überleben kämpfte.

Im Original liegen sie in zwei verschiedenen Zimmern; und der Mann kommt fast um vor Schmerz –, weil er seine Frau nicht sehen kann; und dann wird er im Rollstuhl zu ihr geschoben ...

Lektor Lish strich das Wiedersehen. Wenn er schon vor Carver keinen Respekt hatte: Den Liebenden hätte er das nicht antun dürfen.

Peter Pisa

KURIER-Wertung: ***** von *****

Tamta Melaschwili – "Abzählen"

Auch auf 200 Metern siegt Raymond Carver

Ein Zknapa ist auf Georgisch so etwas wie ein Zwutschgerl. Die 13-jährige Ketewan, genannt Zknapa, ist so ein Zwutschgerl, zumindest im Vergleich zu ihrer Freundin Ninzo. Während Ketewan alias Zknapa aussieht wie ein Kind, wirkt die gleichaltrige Ninzo mit ihrem gut entwickelten Körper wie mindestens 17. Mit dem großen Busen kann sie leichter Zigaretten schnorren von dem Typen mit den blauen Augen.

So weit ist "Abzählen" eine Teenie-Geschichte. Rotzig erzählt. Der rohe Ton passt. Denn Ninzo und Ich-Erzählerin Zknapa erschnorren sich ihre Zigaretten im Krieg, und der Typ mit den blauen Augen ist zwar auch ein Jugendlicher, aber im Krieg sind junge Burschen Wachposten; und wenn du nicht weißt, wie lange du noch zu leben hast, muss alles sehr schnell gehen. Ruppig.

Das Debüt der 1979 geborenen Georgierin Tamta Melaschwili erzählt in rhythmischer Sprache und drastischen Bildern davon, wie es ist, in einer gottverlassenen Konfliktzone Teenie zu sein. Wo es niemanden mehr gibt als Kleinkinder und Alte. Und die sind "plemplem". Wo du, wenn du mit deiner Freundin durch die Gegend strolchst, Leichen findest. Und mitten im Krieg auch hübsch sein willst.

Denn es gibt nicht nur den Tod vor der Tür und im eigenen Haus, wo die todkranke Mutter den sterbenden Babybruder im Arm hält. Man ist auch eine 13-Jährige, die die erste Monatsblutung bekommt und stolz darauf ist, nun so zu sein wie die Freundin: endlich Frau.

Melaschwili lebte in Deutschland, studierte Gender Studies in Budapest. Heute lebt sie wieder in Georgien. Ihr Romandebüt "Abzählen" ist ein schmales Bändchen von großer erzählerischer Wucht.

Barbara Mader

KURIER-Wertung: ***** von *****

Gabrielle Hamilton – "Blood, Bobes & Butter"

Auch auf 200 Metern siegt Raymond Carver

Eine Familiengeschichte mit gegrillten Lämmern und gebratenen Marillen. Hamilton ist Besitzerin und Köchin des New Yorker Restaurants Prune = Pfläumchen, ihr Kosenamen, als sie in Liebe und bei gutem Essen aufwuchs. Dann ließen sich die Eltern scheiden, und sie musste rasch erwachsen werden. Als Tellerwäscherin, Kellnerin ... ihre Kindheitserinnerungen stehen auf der Speisekarte (Fenchel fehlt nie), und auch als Buch schmecken sie gut.

Peter Pisa

KURIER-Wertung: *** von *****

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