"Ariodante": Warum eigentlich?

Sarah Connolly (li.) mit Chen Reiss im „Revenant“-Outfit
Erstaufführung der genialen Händel-Oper an der Wiener Staatsoper, Applaus am Ende der viereinhalb Stunden.

Georg Friedrich Händels " Ariodante" in einer meisterhaften Inszenierung, bei der Geschlechterklischees humorvoll hinterfragt werden, bei der das Thema Macht tiefgründig behandelt wird, bei der sogar die aktuelle #MeToo-Debatte mitschwingt, in einer überragenden Besetzung, die neue Maßstäbe in der Barock-Interpretation setzt, mit phänomenalen . . .

. . . oje, sorry, falsches Band eingelegt, falscher Beitrag, falsche Datei im Gedankenpalast, falscher Speicherplatz. Wir reden ja hier nicht von der "Ariodante"-Produktion der Salzburger Pfingstfestspiele von Regisseur Christof Loy mit Cecilia Bartoli in der Titelpartie, die, obwohl viele Monate zurückliegend, in der Erinnerung präsenter ist als das meiste, was danach kam. Wir befassen uns mit der aktuellen Premiere an der Wiener Staatsoper.

Also Restart, nochmals von vorne.

Die Geschichte

Zum allerersten Mal wurde nun dieses geniale Werk, 1735 in London uraufgeführt, an der Wiener Staatsoper gespielt. Zum allerersten Mal dirigierte William Christie, ein ausgewiesener Experte für das Alte Fach, im Haus am Ring. Und man hörte drei für die Staatsoper neue (nicht nur allererste) Stimmen und sah eine Inszenierung von David McVicar, in der Tänzer eine zentrale Rolle spielen – sie sollen wohl dem drohenden Stillstand etwas Bewegung entgegensetzen.

Drohender Stillstand? In "Ariodante", basierend auf Gesängen aus Ludovico Ariostos "Orlando furioso", geht es im schottischen Mittelalter um das Liebespaar Ginevra – Ariodante, um einen furchtbaren "Querbrater" namens Polinesso, um eine Intrige, die Ariodante eine (vermeintliche) Untreue Ginevras insinuiert und um die finale Versöhnung nach einem Gottesgericht im Stil des gut hundert Jahre später entstandenen " Lohengrin". Dafür braucht Händel viereinhalb Stunden, als würde er eine neunte Staffel "Game of Thrones" füllen müssen. Bei Christies Dirigat fühlt es sich angesichts der langsamen Tempi in den vielen Dacapo-Arien wie ein ganzer "Ring" an. Und man wünscht sich Striche, STRICHE!! Und denkt an den Theatermacher Jérôme Savary (✝), der einmal gesagt hatte: "Jede Aufführung über 90 Minuten ist ein Fall für Amnesty."

Nun ist diese Aufführung per se nicht übel. "Ariodante"-Premiere an der Wiener Staatsoper: Ja eh. Aber warum eigentlich . . .?, wie ein TV-Format des KURIER zur Zeit regelmäßig fragt.

Das Orchester

Warum eigentlich wird diese Händel-Oper im Haus am Ring gespielt, wenn es doch dafür viel geeignetere, kleinere, intimere Musiktheater gibt? Die einzig logische Antwort kann nur lauten: Weil dieses Werk so stark ist, dass es in einem derart bedeutenden Opernhaus gehört werden sollte. Allerdings stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit, wenn William Christie mit seinem eigenen Orchester Les Arts Florissants kommt, das ganze Unternehmen somit keinerlei Auswirkungen auf den sonstigen Betrieb, nicht den geringsten Einfluss auf das Repertoire hat, es keinerlei Kontraste oder Widersprüche gibt.

Christie ist bei seinem Erstauftritt hörbar bemüht, die akustischen Qualitäten des Hauses zu nützen, kann aber trotz eines groß besetzten Klangkörpers (16 Geigen) nie wirklich Kraft entfalten. Klangfarben scheinen eine wesentlich größere Rolle zu spielen als eine dramaturgisch ausgefeilte Erzählweise. Natürlich bezaubern die Theorbe oder die Traversflöte oder die Naturhörner in vielen Phasen, es wirkt aber alles sehr dünn, ästhetisiert – und stets auch ein bissl fad.

Die Besetzung

Warum eigentlich, so lautet die nächste Frage, setzt man eine "Ariodante"-Premiere an, wenn es sängerisch keine zwingenden Gründe zu geben scheint? Die britische Mezzosopranistin Sarah Connolly ist ein solider Ariodante, mit geringer Substanz in den tieferen Registern, klaren Höhen, sauberen Koloraturen, jedoch wenig Ausstrahlung in dieser Regie. Optisch erinnert sie an Danny Kaye im "Hofnarr", allerdings fehlt jeglicher Witz wie etwa vom Becher mit dem Fächer.

Chen Reiss ist eine sympathische, in ihrem Leiden berührende, stimmlich präzise und höhensichere Ginevra. Aber auch diese Partie würde mehr Kraft erfordern. Hila Fahima als Dalinda besticht mit glockenreinen Spitzentönen und wird dereinst möglicherweise in diese Rolle hineinwachsen. Der grandiose Countertenor Christophe Dumaux, der schon in Salzburg an der Seite der großen Bartoli sehr erfolgreich den Polinesso gesungen hat, ist nun auch in Wien der Bösewicht und in jeder Hinsicht der Beste dieser Produktion. Das sollte der Maßstab einer wichtigen Premiere sein.

Rainer Trost singt den Lurcanio, zuletzt in Salzburg von Rolando Villazón gestaltet, ebenso mit Anstand wie Wilhelm Schwinghammer den König von Schottland. Benedikt Kobel als Odoardo hat diesmal fast die größte Stimme, was schön für ihn ist.

Die Regie

Warum eigentlich, und damit kommen wir zur Inszenierung, nähert sich David McVicar diesem Werk ohne erkennbaren Versuch einer Interpretation oder einer Überprüfung auf Relevanz der Handlung für unsere Zeit? Die Kostüme (Ausstattung: Vicki Mortimer) sind hübsch, bunt und aufwendig, die Choreographie (Colm Seery) sorgt – gemeinsam mit den beweglichen Bühnenelementen, die Mauern einer schottischen Burg darstellen – zumindest für etwas Abwechslung. Die Personenführung ist aber eindimensional, man sieht großteils Rampentheater, was wohl auch der akustischen Komplexität von Barockmusik in diesem Haus geschuldet ist.

Vielleicht will sich David McVicar als Nachfolger von Peter Stein in Position bringen. Dafür muss er zwar präziser werden, bis hin zu den Kostümen mit den schottischen Tartans. Die Voraussetzungen dafür besitzt er aber.

Insgesamt ist dieser lange Opernabend, obwohl es sich um kein Repertoire-taugliches Stück und schon gar nicht um eine Festspielaufführung handelt, ehrenwert und höchst anständig. Aber die Datei gibt es nicht, welche die Vorstellungskraft liefert, ein zufällig anwesender junger Mensch könnte nach diesem "Ariodante" um ein Opern-Abo betteln.

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