"Arigona ist kein Einzelfall"

"Arigona ist kein Einzelfall"
Nina Kusturica kennt das Leben als Flüchtling in Österreich aus eigener Erfahrung. Die Filmemacherin unterstützt die Initiative "Machen wir uns STARK".

Sie kennt die direkten Auswirkungen, die Politik auf Menschen haben kann. 1992 erlebte Nina Kusturica das Flüchtlingsdasein am eigenen Leib, als sie nach Ausbruch des Jugoslawienkriegs mit ihrer Familie aus Bosnien flüchten musste. Und sie beobachtete mit der Kamera, wie es minderjährigen Flüchtlingen geht, die den steinigen Weg in die sogenannte "Festung Europa" auf sich nehmen. Daraus machte sie 2009 den Film "Little Alien", mit dem sie in einer Schulinitiative mit Vorführungen und Diskussionen durch Österreich tourt. Anfang Juli bekam Kusturica dafür den "outstanding artist award" des Kulturministeriums in der Sparte "Interkultureller Dialog".
Die Regisseurin engagiert sich auch für die Initiative "Machen wir uns STARK", die ein Umdenken in der Politik fordert. Man wolle Österreich "besser" machen und das "Auseinanderdividieren" beenden, erklärte etwa Willi Resetarits, einer der prominenten Proponenten. Unterstützt wird die Plattform weiters von Autor Ilija Trojanow, den Kabarettisten Josef Hader und Roland Düringer u.v.a. Die unabhängige Bürgerinitiative ruft Menschen zur Mitarbeit auf und möchte bei der Willenskundgebung am 18. September am Wiener Heldenplatz einen Ruck in der Politik auslösen. Nina Kusturica nimmt im KURIER.at-Gespräch Stellung zu den Zielen der Initiative und spricht über ihre Arbeit.

KURIER.at: Was hat Sie dazu bewogen, bei "Machen wir uns STARK" mitzumachen?
Nina Kusturica: In den letzten Jahren konnte ich beobachten, dass das, was die Politik macht, sehr oft nichts damit zu tun hat, was die Bevölkerung will. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die sehr wohl hilfsbereit sind und die es unglaublich schrecklich finden, wie Menschen in Österreich ausgegrenzt werden - wie schwer sie's haben hier in ein Leben einzusteigen und gleichberechtigt behandelt zu werden.
Ich finde es daher ganz wichtig eine Initiative zu unterstützen, die parteipolitisch nicht irgendwo eingebettet ist, und die sagt: Wir wollen uns diese Ungerechtigkeiten, die hier passieren, nicht mehr anschauen. Wir, die hier sind und schon am System teilhaben, haben ja die Pflicht aufzuschreien.
Es ist aber sehr schwer sich zu organisieren gegen eine Politik, wie sie zurzeit in Österreich vorherrscht. Daher gründen sich immer wieder unabhängige Vereine, Organisationen, die die Unterstützung der Bevölkerung brauchen, um agieren zu können.

Die Initiatioren haben erklärt, dass es für die Gründung der Initiative keinen konkreten Anlass gegeben habe. Wie sehen Sie das?
Grundsätzlich sehe ich jeden Tag konkrete Anlässe, so eine Initiative zu machen. Politisch gesehen, gibt es jetzt zwar keinen konkreten Gesetzesbeschluss als Anlass, aber es passieren Verschärfungen. Die Menschen haben es immer schwerer, hier einen Aufenthaltsstatus zu bekommen, das Recht zu arbeiten, sich zu integrieren, ein neues Leben zu beginnen.
In den letzten Jahren ist in der Politik und in den Medien die Stimmung gegenüber Ausländern, Fremden viel schlechter geworden - im Vergleich zu der Zeit, als ich zum Beispiel im Jahr 1992 aus Bosnien nach Österreich geflüchtet bin. Ich beobachte sehr genau, was passiert., weil es auch mein persönliches Thema ist.
Und es gibt da auch die Wiener Wahlen im Oktober. Wenn man sieht, wie hier bisher die Kampagnen geführt wurden, werden garantiert schlimme Sachen behauptet werden und in den Medien präsent sein. Daher wird es umso wichtiger sein, dass im September auch andere Stimmen sehr intensiv zu hören sind.

Wird die Wiener Wahl also konkrete Anlässe bieten?
Leider ja. Menschen Angst zu machen, das ist ein Instrument, um Wählerstimmen abzuholen. Man will Aufmerksamkeit erregen um den Menschen dann Sicherheit zu versprechen. Ein Mechanismus, der oft durchschaut wurde und trotzdem leider viel zu selten diskutiert wird und gerade deswegen auch oft funktioniert.

Sie beobachten das Thema Asyl und Flucht schon länger - auch aus eigener Erfahrung. Wie haben Sie die Geschehnisse rund um Arigona Zogaj gesehen, die ja schon als kleines Kind nach Österreich gekommen ist?
Es wurde zu wenig darüber gesprochen, dass die Geschichte der Familie Zogaj keine Seltenheit in diesem System ist. Die betroffenen Menschen wurden medial auf einen "Einzelfall" reduziert und nicht in einem gesellschaftlich-rechtlichen Kontext wahrgenommen. Politisch stand die Geschichte der Famile Zogaj für exemplarische "Bestrafung" Einzelner für das "Wohl" der Gesellschaft. Durch die politischen Entscheidungen und die mediale Berichterstattung ist eine Lynch-Stimmung um das Thema dieser Familie entstanden. Das hat der Familie Zogaj geschadet. Es ist der Beweis der eigentlichen Armut und Handlungsunfähigkeit unsrer Gesellschaft.

Wird "machen wir uns STARK" im Herbst auch darauf Bezug nehmen?
Ich nehme an, dass bei einer Veranstaltung dieser Art auf die allgemeine Situation hingewiesen wird. Wichtig ist zu erwähnen, dass Abschiebungen integrierter Menschen viel öfter passieren als medial berichtet wird.

War es Ihnen auch wichtig, dass sich die Initiative tendenziell nicht GEGEN etwas, sondern FÜR etwas stark macht?
Genau. Und ich finde es schön, dass die Menschen das auch mitgestalten können, dass es nicht von Anfang an eine fixe Veranstaltung ist, die man bloß unterstützt. Ich finde es total schön, dass das so offen ist und auch demokratisch funktioniert. Und die Idee ist es auch, die positiven Seiten der Integration, einer bunten Gesellschaft zu sehen, die uns eigentlichen reicher macht und nicht ärmer.

"Arigona ist kein Einzelfall"

Sie sagten, sie hätten den Eindruck, dass viele Österreicher eigentlich anders denken und hilfsbereit sind. Wie haben Sie das 1992 erlebt?
Damals waren wir in einer komplett schizophrenen Situation. Auf der einen Seite war die Gesetzeslage für uns sehr undurchsichtig, wir haben nicht gewusst ob wir hier bleiben dürfen. Jahrelang hat man alle drei Monate unsere Papiere verlängert. Wir bekamen keine Unterstützung, durften auch nicht arbeiten. So kam meine Familie in eine Grauzone: Was haben die da mit uns vor? Auf der anderen Seite hatten wir wirklich die besten Erlebnisse. Wir haben viele unglaublich nette und offene Menschen kennengelernt, die uns geholfen haben, auf der privaten Basis ein normales Leben hier zu beginnen. Wenn man in ein neues Land kommt, kann man sich ja oft nicht so orientieren.
Aber vonseiten des Staates haben wir den Eindruck gehabt, es geht überhaupt nicht um uns als Menschen, sondern um irgendwelche Paragraphen. Als hätte das gar nichts mit Menschenschicksalen zu tun. Das habe ich auch bei der Arbeit an "Little Alien" festgestellt.
Die Schüler, denen wir den Film zeigen, können es oft gar nicht fassen, dass die Gesetze so absurd sind. Dass die Menschen kaum Möglichkeiten haben hier ein Leben zu beginnen, dass sie bis zu 15 Jahre in Ungewissheit leben, ob sie morgen abgeschoben werden oder nicht. Jugendliche dürfen außerdem keine Ausbildung haben, wenn sie im Asylverfahren sind, außerdem haben sie keine Arbeitsbewilligung. Da Lehre oder Berufsschule aber nach österreichischem Recht als Arbeit gelten, sind viele zum Nichtstun verurteilt.

"Arigona ist kein Einzelfall"

Wie sind die Rückmeldungen bei den Filmvorführungen von "Little Alien"?
Wir sind ja noch bis Ende November unterwegs mit unserer Schultour und haben die Erfahrung gemacht, dass die Schüler sehr glücklich waren, das Thema von dieser Seite erzählt zu bekommen: Aus der Perspektive der Menschen, die hierher kommen, der Jugendlichen. Dadurch, dass sie gleichen Alters sind, konnten sie sich natürlich viel schneller identifizieren mit dem Schicksal dieser Menschen. Und viele meinten, dass sie hier Informationen bekommen haben, die sie sonst nicht kriegen. Weil in den Medien oft sehr einseitig und reißerisch berichtet wird.

Wir bekommen auch sehr viele Briefe von jungen Menschen. Wenn ich kurz vorlesen darf: "Lieber Jawid, ich muss dir sagen, dass ich zu dir aufschaue!" "Liebe Regisseurin von " Little Alien" ... bis jetzt hab ich gar nicht gewusst, dass es so ein großes Problem ist ... Ich hab nicht gewusst, dass Kinder alleine fliehen müssen ... oder, dass Jugendliche überhaupt fliehen müssen."

Politiker in der Disco

Wie ist der Kontakt der Schüler zu den Protagonisten des Films?
Für die Schüler ist es auch ein Aha-Erlebnis, mit den Leuten reden zu können, die sie auf der Leinwand gesehen haben. Und wenn sie zum Beispiel Jawid konkret im Kinosaal sehen, denken sie nicht mehr über das Phänomen Flüchtlinge allgemein nach, sondern über konkrete Menschen.
Wir sehen, dass das richtig Sinn macht. Denn mit Jugendlichen wird sehr wenig über Politik gesprochen. Und wenn, dann sind es Politiker, die sich cool anziehen und abends in die Disco gehen und so ihre Wählergruppe organisieren. Sehr wenige reden aber über Inhalte mit ihnen.
Es ist aber auch ganz wichtig, über Sorgen zu sprechen. Vor allem, wenn man in einer Welt lebt, in der Ängste immer wieder einer Rolle spielen. Denn oft steckt hinter diesen Ängsten etwas ganz anderes. Daher versuchen wir auch in den Publikumsgesprächen, das Thema zu entmystifizieren. Denn da ist viel Mythos dabei, was Flucht ist, was Fremde sind. Wenn man das aber konkretisiert, dann ist es näher am Leben und realistisch und dann kann man normal darüber reden.
Das ist auch ein Ziel der Initiative "Wir machen uns STARK".

"Wir brauchen junge Zuwanderer"

"Arigona ist kein Einzelfall"

Sie zeichnen die Flüchtlinge als normale Teenager mit normalen Problemen - auch mit ein bisschen Humor, so weit das möglich ist ...
Das war mir so wichtig, dass man die Menschen nicht auf diese schwierige Lebenssituation reduziert. Ich wollte im Film zeigen, dass dieses Schicksal nur ein Teil von ihnen ist - wie sie damit umgehen und wie sie ihre Probleme lösen. Man soll sie nicht auf dieses Thema reduzieren. Weil das oft eben gerade das Gesetz, die Bürokratie macht. Als ich selbst betroffen war, hab ich das auch immer so gehasst: Ich war plötzlich nur noch ein Flüchtling, und nicht alles andere.

"Machen wir uns STARK" fordert einen "radikalen Kurswechsel in der Asyl- und Fremdenpolitik". Was sind Ihre Anliegen in dieser Hinsicht?
Die größte Ungerechtigkeit sehe ich darin, dass das Thema Asyl im Innenministerium angesiedelt ist, und nicht in einem anderen Ministerium, das sich mit sozialen Themen beschäftigt. Wenn es im Innenministerium bleibt, sollte ein Ressort für Integration und Diversität eingerichtet werden.
Schließlich bestimmt dieses Thema auch die Zukunft, wie wir hier alle miteinander leben werden. Man wird sich nicht abschotten können, egal, was man unternimmt. Ich denke, dass diese Angstbilder nur für politische Zwecke missbraucht werden und jeder eigentlich weiß, dass wir rein demographisch junge Menschen hier brauchen, weil wir in Westeuropa mit der Reproduktion nicht so nachkommen. Auf allen Ebenen gibt es Analysen, aus denen klar hervorgeht, dass es gut ist, neue Leute hierzuhaben, wenn wir eine bunte Gesellschaft werden. So lange das Thema aber im "Angstministerium" angesiedelt ist, ist es schwer den Menschen die richtige Chance zu geben. Und das Thema normal zu behandeln.

Gibt es noch weitere Punkte, die Sie angehen würden?
Die langen Wartezeiten müssen reduziert werden: Asylverfahren werden sehr langsam abgewickelt. Die bürokratische Art, wie das im Asylgerichtshof abgewickelt wird, blockiert Menschenschicksale für lange Zeit.
Asylwerber sollten arbeiten dürfen. Wenn man als Erwachsener nach Österreich kommt, bekommt man keinen Tag Deutschkurs bezahlt, nur durch NGOs. Man kann hier aber kein normales Leben beginnen, wenn man nicht die Sprache lernt.

Es gibt viele Punkte. Aber hauptsächlich geht es darum, dass man den Menschen die Möglichkeit gibt, ein Leben auch selbstverantwortlich zu leben und sie nicht von einer Hilfe von 290 Euro im Monat abhängig sein lässt. Das ist kein menschenwürdiges Leben. Es gibt auch keine Flut auf Europa. In den Medien ist immer von Schlagworten wie der gestürmten Festung Europa die Rede. Dabei handelt es sich hier um Zahlen, die normal zu meistern sind.

Was kann ein Film in dieser Situation beitragen?
Dass man differenziert darüber spricht. Vor allem bei den Jugendlichen sehe ich das. Es kann helfen, einen eigenständigen Denkprozess anzuregen. Viele nehmen sich diese Möglichkeit nicht, weil es oft einfacher und bequemer ist, vorgefertigte Sätze zu übernehmen und nicht zu hinterfragen. Wenn man das schafft, kann man viel bewirken.

Haneke-Porträt

Sie haben 2004 das Porträt "24 Wirklichkeiten in der Sekunde" über Michael Haneke gedreht. War damals schon absehbar, dass Haneke auch in Übersee den ganz großen Erfolg schaffen wird?
Es war klar, dass er es irgendwann schaffen wird. Die Frage war nur, mit welchem Film er sich das volle Paket abholen wird. Er ist ein sehr disziplinierter Drehbuchautor, der sicher noch viele sehr gute Drehbücher in der Schublade hat. Er ist sehr konsequent in jeder Form. "Das weiße Band" haben wir schon in Cannes gesehen. Es war klar, dass es ein Top-3-Haneke-Film ist - so speziell und so genau gemacht.

Sie haben in Ihrem Film auch Konflikte am Set gezeigt. War das kein Problem für Haneke, dass Sie bei solchen Szenen dabei waren?
Bei einer Doku ist es gottseidank so: Wenn man sich genug Zeit nimmt und lange genug anwesend ist, wird man kleines Team nach den ersten beiden Stunden vergessen - wenn der Mensch in seinem normalen Lebensumfeld ist. Und so war es mit Haneke auch. Er ist zwar bekannt dafür, dass er auch rabiat werden kann. Aber er hat uns voll arbeiten lassen und auch respektiert. Er hätte sich nur gern selbst nachsynchronisiert, weil er so im Wiener Dialekt gesprochen hat.

Hat der internationale Erfolg österreichischer Regisseure auch konkrete Auswirkungen auf das heimische Filmschaffen?
Ja. Das hat konkrete Auswirkungen. Erstens einmal schauen die Leute eher auf. Österreichischer Film ist schon eine Art Qualitätsmarke geworden international, auch wenn nicht Haneke, Geyrhalter oder Seidl draufsteht.
Was im Land getan wurde: Es wurden ein paar Förderungen angehoben - natürlich nicht genug, im Verhältnis zur gesamten Situation, und zu dem, wie viele Filme gedreht werden sollen und wie viele kreative Menschen es hier gibt - aber der Oscar und die ganzen Erfolge, die helfen schon bei der Argumentation, wenn man um eine bessere Situation für Filmemacher kämpft.

Zur Person: Nina Kusturica

"Arigona ist kein Einzelfall"

Geboren 1975 in Mostar, Bosnien-Herzegowina, aufgewachsen in Sarajevo.
Seit dem Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina im Jahr 1992 lebt sie in Wien. Studium an der Filmakademie Wien. Ihr Diplomfilm "Auswege" eröffnete im März 2003 die Diagonale - das Festival des österreichischen Films und hatte seine internationale Premiere bei der Berlinale.

Produktionsfirma
2003 gründete sie gemeinsam mit Eva Testor die Produktionsfirma Mobilefilm.
2004: Dokumentarfilm "24 Wirklichkeiten in der Sekunde - Michael Haneke im Film" gemeinsam mit Eva Testor.
Nina Kusturica lebt und arbeitet in Wien als Regisseurin, Cutterin, Autorin und Produzentin.

DVD
"Little Alien" (2009) erscheint im Dezember 2010 als DVD. Infos zur Schulinitiative im Link siehe unten.

Aktion: "Machen wir uns STARK"

Gefordert wird unter anderem ein "radikaler Kurswechsel" in der Asyl- und Fremdenpolitik, konkret ein "Ressort für Diversität und Integration", außerdem eine "gerechtere Verteilung des Wohlstands und Jobs, von denen wir leben können", etwa durch Investitionen in Kinderbetreuung, Pflege und soziale Dienstleistungen oder eine "mutige Bildungspolitik" durch eine "kräftige Erhöhung" des Bildungsbudgets.

Über ihre Website (siehe Link unten) sammelt die Initiative weiterhin Spenden für die Willenskundgebung inklusive Konzert am Heldenplatz am 18. September.

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