Angesagt: Wien um 1900

Angesagt: Wien um 1900
So präsent wie derzeit war die große Wiener Kultur-Epoche um 1900 schon lange nicht mehr. Hartmann, Natter, Schottenberg über Parallelen zum Heute.

Für diese Diagnose musste niemand jahrelang bei Sigmund Freud auf der Couch sitzen: Wien hat eine kulturelle Obsession mit der vorigen Jahrhundertwende, mit der Zeit also von Freud, Schnitzler, Mahler, Schönberg, Schiele und Klimt, von Jugendstil und Wiener Werkstätte, von Monarchie-Dämmerung und nahendem Ende des Vielvölkerstaates.

So überaus deutlich wie derzeit schlägt sich diese Obsession aber selten in die Spielpläne, Kulturkalender und Kinoprogramme durch. Dies zeigt schon ein Blick auf die Schnitzler-Premieren alleine in dieser, noch jungen Saison: "Traumnovelle" in der Josefstadt, "Das weite Land" an der Burg, "Der einsame Weg" im Volkstheater (Kritik siehe unten) . Im Kino läuft David Cronenbergs Freud-Film "Eine dunkle Begierde". Das eine oder andere Spezialkonzert zum Mahler-Doppeljubiläum wartet im Abo. Das Leopold Museum lockt mit Schiele ("Melancholie und Provokation"), das Belvedere mit Klimt und Josef Hoffmann ("Pioniere der Moderne").

Und das ist erst ein recht überschaubarer Vorgeschmack auf das Jahr 2012: Denn da wird der 150. Geburtstag Klimts gefeiert - mit neun Ausstellungen in acht Wiener Museen. "Mehr Werke als je zuvor", werden zu sehen sein, lockt der Wien-Tourismus, alles in allem etwa 800.

Kurz gesagt: Wien nach 2000 lebt kulturell immens stark vom Wien um 1900.

Markenzeichen

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So sehr, dass man sich derzeit fast an die allgemeine Verkugelung im Mozartjahr 2006 erinnert fühlt. Denn nach dem allumfassenden Lieblingskomponisten ist die Wiener Jahrhundertwende wohl das kulturelle Aushängeschild der Donaumetropole.

"Wien um 1900 ist eine historische Marke, die sich in der Kulturgeschichte Europas und als universeller Wert etabliert hat. Das ist schon einmalig", sagt der Direktor des Leopold Museums, Tobias Natter, zum KURIER.

Aber warum boomt diese Zeit gerade jetzt? Das liegt nicht nur daran, dass die einstigen Aufreger wie Schieles Akte, die Secession, Jugendstil-Fassaden oder auch Mahlers Großsymphonien heute zum wohligen Erbe des Kulturalltags gehören. Es lassen sich tiefer gehende Gründe für die sonderbare Häufung an Jahrhundertwende-Innenschau finden als der Kulturtourismus. Denn bei allem Fortschritt sind die Zeiten überraschend ähnlich.

"Beide Jahrhundertwenden scheinen mir von einer enormen Spannung geprägt, man meint ja geradezu das unheilvolle Knarren eines überspannten Seils in der Luft zu hören, kurz bevor es reißt", sagt etwa Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann auf KURIER-Anfrage. "Wir befinden uns in einer spürbaren Umbruchstimmung. Damals wie heute bedeutet das eine ambivalente Stimmung zwischen Hoffnung auf eine Zukunft, Stagnation und wirtschaftlicher Regression." Und "gleichzeitig existiert Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz".

Auch Natter sagt: "Gerade durch die aktuellen Erschütterungen der Finanz- und Wirtschaftskrise gibt es unterschwellig ein starkes Unwohlsein, wo man nicht weiß, wo es hinführt - vielleicht kann man das vergleichen mit Wien um 1900, mit der Stimmung, die man dann retrospektiv als Apocalypse joyeuse (fröhliche Apokalypse, Anm.) bezeichnet hat."

Ratlosigkeit

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Hartmann nimmt "eine ungeheure Ratlosigkeit in dieser Untergangsstimmung wahr". Diese bleibt nicht folgenlos:
"Daraus entstehen dann wiederum so hochinteressante Bewegungen wie die aktuelle ,Occupy-Bewegung', die Menschen aufgrund ihrer Ohnmacht eint gegen ein gesichtsloses, korruptes Finanzsystem, und weltweit Demonstrationen auslöst."
Und da spricht die Kunst von damals natürlich zu den Menschen von heute, bekommt eine neue Aktualität.

Schnitzlers "Der einsame Weg" etwa sei "ein Stück, als wäre es heute geschrieben", sagt Volkstheater-Direktor Michael Schottenberg. Denn der Autor beschreibt darin eine "neue und orientierungslose Generation". Der "Analyst seiner Zeit" hat dadurch "Wahrheiten für alle Zeit geschaffen".

Neben den Wahrheiten wurden damals aber auch immense Werte geschaffen. "In der klassischen Moderne sind Klimt, Schiele, Jugendstil ganz wesentliche Teile unserer Auktionen", sagt Martin Böhm, Geschäftsführer des Dorotheums. Nach dem Barock war die klassische Moderne ein "wesentlicher Beitrag zur Weltkunstgeschichte, mit Klimt und Schiele, aber auch mit der Untermauerung - mit Freud etwa. Freud ist in England und Amerika eine Persönlichkeit mit unglaublicher Strahlkraft, einer, der nahezu vergöttert wird."

Und nicht zuletzt spielt an der kulturellen Obsession mit 1900 wohl auch das Unbehagen eine Rolle: Werke von Klimt und Schiele zählen zu den bedeutendsten Fällen von Raubkunst, die jüngst aufgearbeitet wurden.

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