Akut bedroht: Das Best-Of-Album

Beatles-Album
Ein "Greatest-Hits"-Album rechnet sich wegen des Streaming-Booms nicht mehr.

Drei Schritte führten früher einmal vom Kind zum Popmusik-Fan.

Erstens: Die Fähigkeit, den Plattenspieler oder den CD-Player zu bedienen, ohne Marmeladebrote in den Schacht zu schieben bzw. die Nadel aufs Brot zu setzen.

Zweitens: Der Umstieg von Winnetou/Märchen/Spongebob-Scheiben zu Musik.

Und drittens: Genügend frühkriminelle Energie, um Papa und Mama streng verbotener Weise die Platten zu klauen.

Einstiegsdrogen in eine formschöne Karriere als Musiksüchtiger waren dann meistens Greatest-Hits- und Best-Of-Kompilationen.

Beim Autor dieser Zeilen waren das das "rote" und das "blaue" Album der Beatles (die Farben entsprechen den beiden Liverpooler Fußballvereinen FC Liverpool und FC Everton) mit den berühmten Fotos aus dem Stiegenhaus des EMI-Gebäudes auf dem Cover;

Akut bedroht: Das Best-Of-Album
Best of Alben

ein Album mit dem absurden Titel "Rolling Stones – Die 30 größten Hits in Originalaufnahmen" (mit dem Aufkleber "Aus der Radio- und TV-Werbung");

sowie ein bisschen später "Queen – Greatest Hits" in der ersten Auflage (noch ohne "Under Pressure" und Bandfoto, nur mit dem golden geprägten Logo auf dem dunkelroten Cover).

Tausende Male haben wir diese oder ähnliche Alben gehört. Die Prägung dadurch ist so stark, dass viele von uns noch Jahrzehnte später wissen, wie es nach einem bestimmten Song weitergeht. (Höre ich "Bohemian Rhapsody" von Queen, erwarte ich "Another One Bites The Dust", höre ich "Love Me Do" von den Beatles, erwarte ich "Please Please Me".)

Bedroht

Jetzt ist das "Greatest-Hits"-Album offenbar akut vom Aussterben bedroht. (Man könnte formulieren: Es geht ihm an den Kragen. Man könnte, sollte aber nicht – das wäre eine elende Metapher, da eine Schallplatte keinen Kragen hat.)

Der Grund dafür: Natürlich das Geld. Ein "Greatest-Hits"-Album rechnet sich nicht mehr, jedenfalls nicht für die großen Musikkonzerne. Früher einmal war eine Hit-Kompilation eine gute Möglichkeit, ein zweites Mal Geld mit dem Material einer Band zu verdienen – wenn die Band sich aufgelöst oder mit aktuellen Stücken keinen Erfolg oder die Plattenfirma gewechselt hatte.

In Zeiten, in denen das Streaming die Tonträger immer mehr verdrängt und jedes beliebige Musikstück im Internet verfügbar ist, ergibt es für ein Major-Label keinen Sinn mehr, die Archive zu plündern, eine Kompilation zusammenzustellen, die Band für ein, zwei "Bonus-Tracks" noch einmal ins Studio zu scheuchen oder irgendetwas Unveröffentlichtes im Keller zu finden und das Ganze dann für das Weihnachtsgeschäft aufzuputzen.

Despacito

In einem Online-Artikel namens "Ist das Greatest-Hits-Album tot?" führt BBC News als Beispiel den puerto-ricanischen Sänger Luis Fonsi an. Obwohl er 2017 mit "Despacito" DEN Sommerhit schaffte und das Interesse an ihm groß war, hatte keine Plattenfirma Lust, ein Kompilationsalbum über seine immerhin schon 20 Jahre dauernde Karriere zu erstellen.

Mit einer Ausnahme: Frankreich. Der Musikmarkt ist dort konservativer und traditioneller, der Anteil an Tonträgern noch wesentlich höher (45 %) als etwa in England (nur noch ein Drittel).

Einstiegsdrogen

Das ist auf den ersten (und auch zweiten) Blick natürlich schade. "Greatest Hits" und "Best Of’s" (das muss keineswegs das gleiche sein, die größten Hits sind nicht zwingend das Beste) waren klassische Einstiegsdrogen. Und sie boten, vor allem, wenn sie zeitlich geordnet waren, einen hervorragenden Überblick über das Schaffen eines Künstlers, einer Künstlerin oder einer Band.

Anhand des roten und des blauen Albums kann man wunderbar die Entwicklung der Beatles nachvollziehen: In acht Jahren wurden sie von Teenie-Idolen zu Innovationskräften des Pop und schließlich zu einem zerstrittenen Haufen, der im Untergang noch Besonderes hervor brachte. Was für eine großartige Reise, die man auf acht Plattenseiten immer wieder mitgehen kann!

Dennoch wird das "Greatest-Hits"-Album vermutlich nicht verschwinden, sondern sich verändern. Früher richteten sich solche Veröffentlichungen an ein Massenpublikum – künftig werden sie sich eher an zahlungskräftige Spezialisten richten. Kleine Plattenfirmen, die keinen großen Apparat mitschleppen müssen, können billiger produzieren (oft in Zusammenarbeit mit den Majors).

Angeboten werden dann teure CD- oder Vinyl-Boxen, aufgewertet durch DVDs und Booklets, die anhand von Hits, aber auch von Raritäten, die ganze Geschichte einer Band erzählen.

Geschichten

Sie bieten etwas, was Streamings so nicht bieten können: Kontext. Aus Musik gebaute Geschichten.

Und das rote und blaue Album der Beatles werden ohnehin noch viele Jahre lang höchste Verkaufszahlen erreichen, solange es Kinder gibt, die den Plattenschrank der Eltern plündern, neugierig auf diese merkwürdigen runden Dinger in den bunten Verpackungen. Einen besseren Einstieg in die faszinierende Welt des Pop/Rock gibt es nicht.

"Was sind das für komische Bücher?", fragte mich mein Sohn, als er die ersten Vinylplatten sah. Bald fand er es heraus.

Wir mussten nur vorher noch die Marmelade von der Nadel putzen.

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