Ai Weiwei: Migrationsbewegungen der Gedankenfreiheit

Interview mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei
Der weltbekannte Künstler bespielt das 21er Haus und das Belvedere – und erklärte dem KURIER exklusiv die Beweggründe seiner Arbeit.

Viele Beinamen hat Ai Weiwei im Lauf seiner Karriere gesammelt, die meistgehörten lauten „Künstler“ und „Dissident“. Als „Transportunternehmer“ und „Denkmalpfleger“ wird der 58-Jährige weniger oft apostrophiert – und doch tritt dieser Aspekt bei den Werken, die der Künstler bis 20. November im Wiener 21er Haus und im Oberen Belvedere installiert hat, deutlich hervor.

Ai Weiwei: Migrationsbewegungen der Gedankenfreiheit
Ai Weiwei im Belvedere, Wien Foto: Belvedere Wien, honorarfrei im Zusammenhang mit Ausstellung

Kultur übersiedelt

Das Thema der Umsiedelung beschäftigt mich seit Beginn meiner Tätigkeit“, erklärt Ai, der dem KURIER als einzigem österreichischen Printmedium ein ausführliches Interview gab, am Vortag der Eröffnung. „Bei meiner Arbeit für die Documenta 2007 ging es etwa darum, 1001 Chinesen aus allen Schichten und allen Teilen des Landes nach Kassel zu bringen“, erklärt Ai. „Später nahm ich einen Felsen, der sich beim Erdbeben in Sichuan von einem Berggipfel gelöst hatte, und platzierte ihn in der europäischen Bergwelt.“ Die Aktion – 2010 am Dachstein realisiert – machte Ai in Österreich zu einer bekannten und umstrittenen Größe.

Ai Weiwei: Migrationsbewegungen der Gedankenfreiheit
Interview mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei
Auch wenn Ai mit Kontext-Verschiebungen in der westlichen Kunst – vor allem der Idee des „Readymades“, bei dem ein Alltagsding zur Kunst erklärt wird – bestens vertraut ist, leitet er seine eigene Praxis anders her. „Wenn wir im Chinesischen über Kultur sprechen, nutzen wir zwei Wörter“ sagt er. „Eines (文 - wén, Anm.) bedeutet Text, das andere (化 - huà, Anm.) die Art, wie der Text interpretiert wurde. Es ist also natürlich für uns, zu denken, dass es die Pflicht des Künstlers ist, Dinge umzudeuten.“

Ins Wiener 21er Haus hat Ai nun ein enormes Bauwerk – die über 400 Jahre alte Ahnenhalle einer chinesischen Teehändlerfamilie – verpflanzt. Es ist das Herzstück der Schau, in der auch „Teehäuser“ – Skulpturen aus gepressten, duftenden Teeblättern – und eine Installation aus Teekannen-Schnäbeln zu sehen sind.

Erinnerungsarbeit

Wie auch bei der Dachstein-Aktion, bei der es um das Sichtbarmachen von offiziell vertuschten Erdbebenopfern ging, leistet Ai mit seinen transferierten Objekten Erinnerungsarbeit: Die Familie, der das Haus einst gehörte, wurde zur Zeit der chinesischen Kulturrevolution vertrieben. Auch Ai Weiweis Vater Ai Qing, ein bekannter und zunächst linientreuer chinesischer Literat, wurde im Zuge von Maos Gewaltakten verbannt. Den Sohn prägten die Erfahrungen des Exils nachhaltig.

Ai Weiwei: Migrationsbewegungen der Gedankenfreiheit
Ai Weiwei im Belvedere, Wien Foto: Belvedere Wien, honorarfrei im Zusammenhang mit Ausstellung
Auch vor diesem Hintergrund ist das Engagement zu verstehen, das Ai seit einiger Zeit im Hinblick auf die europäische Flüchtlingskrise an den Tag legt. Im großen Bassin vor dem Oberen Belvedere hat Ai nun einen Teppich aus Schwimmkörpern platziert, auf denen je fünf Rettungswesten die Blätter einer „Lotusblume“ bilden.

Gerade für seine Arbeit mit Bildern und Objekten der Flüchtlingskrise hatte Ai zuletzt Kritik geerntet – er selbst beharrt aber darauf, dass es seine Aufgabe sei, Bewusstsein zu schaffen. „Wie das dann angenommen wird, liegt außerhalb meiner Kontrolle. Ich habe nicht die Intention, Kontroversen auszulösen. Meine Intention ist, das Richtige zu tun.“

Der Fokus der Wiener Schau liegt allerdings ohnehin weniger auf Ais politischem Aktivismus und seiner Medienpräsenz. Diese hatte in der Zeit von 2011 bis 2015, als der Künstler nicht aus China ausreisen durfte und unter Dauerbeobachtung der Behörden stand, enorme Dimensionen erreicht.

Doch Themen wie Bewegungsfreiheit, kulturelle Verwurzelung und Migration erscheinen in der direkten Auseinandersetzung mit Ais Werken viel eher als rote Fäden, die sich abseits tagesaktueller Vorkommnisse entspinnen.

Unzerstörbare Kunst

Ai Weiwei: Migrationsbewegungen der Gedankenfreiheit
Ahnenhalle, Ai Weiwei, 21er Haus, Wien, honorarfrei in Zusammenhang mit Bericht zu Ausstellung
Im Wiederaufbau des Ahnenhauses im 21er Haus tritt etwa die Frage zutage, was die Dauerhaftigkeit von Kulturdenkmälern überhaupt bedeutet. Das heutige 21er Haus war selbst ursprünglich als temporärer Weltaus-stellungs-Pavillon für Brüssel errichtet und später „umgesiedelt“ worden, hat also gewissermaßen „Migrationshintergrund“.

„Wenn wir das alte, klassische Gebäude ins Herz dieses modernen Baus verpflanzen, geht es nicht nur um die Bewunderung des alten Hauses, sondern um das Verständnis der Umstände“, sagt Ai im Gespräch. „Zur Zeit der Kulturrevolution wollte man vor allem den Geist des so genannten ,feudalistischen Chinas‘ umbringen“, sagt Ai. „Doch natürlich hat man auch physisch Objekte zerstört – um symbolisch den Geist zu zerstören.“

Dennoch fällt auf, dass Ai, der 1995 noch Aufsehen erregte, als er eine 2000 Jahre alte Vase aus der Han-Dynastie vor der Kamera zerschellen ließ, mittlerweile fast sorgsam mit Chinas überlieferter Kultur umgeht.

Im Kern ging es aber in der provokanten Aktion damals – wie auch heute in der fast denkmalschützerisch anmutenden Verpflanzung des Ahnenhauses – um dasselbe: die Widerständigkeit des Geistes. „Die Frage, die sich mir stellt, ist: Kann man ein Objekt tatsächlich zerstören?“ sagt Ai. „Was die Kunst betrifft, denke ich: Nein. Kunst soll beides können, zerstören und wieder aufbauen. Deshalb ist Kunst wichtig, sie hat eine Freiheit, die unsere Gesellschaft sonst nicht besitzt.“

INFO

Ai Weiwei, 1957 in Peking geboren, wurde als Architekt, Künstler und Blogger bekannt. 2011 wurde er wegen angeblicher Wirtschaftsvergehen inhaftiert, was weltweit Proteste auslöste. Bis 2015 durfte er nicht aus China ausreisen. Inzwischen lebt und arbeitet Ai in Berlin, wo er auch unterrichtet.

Die Schau „translocation – transformation“ eröffnet am Mittwoch (13.7.), im 21er Haus und läuft bis 20.11. Der KURIER ist Medienpartner und bringt am Sonntag (17.7.) neben einer speziellen Titelseite ein Interview, in dem Ai u. a. über die Flüchtlingskrise und die Zustände in China spricht.

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