71 Tote im LKW: Mahnaktion in Bochum

Am Theatervorplatz des Schauspielhauses Bochum wurde ein mit dem todbringenden Schlepper-LKW baugleiches Fahrzeug aufgestellt.
Ein baugleicher Lastwagen auf dem Theatervorplatz konfrontierte die Menschen mit den Fluchtbedingungen.

Am Vorplatz des Schauspielhauses in Bochum wurde am Mittwochabend mit einer drastischen Aktion auf das Flüchtlingsdrama auf der A4 aufmerksam gemacht. Vor dem Theater parkte der Expediteur Gerard Graf am Mittwochabend einen 7,5-Tonner, der mit dem Lkw der Schlepper in Österreich baugleich war. Dann ließ er 71 Bürger in den 15 Quadratmeter großen Laderaum steigen. Die Menschen standen dicht gedrängt und sichtlich erschüttert wenige Minuten auf der nicht verschlossenen Ladefläche. "Mein Gott", flüstert eine Frau, die nicht mit eingestiegen ist.

"Du kannst die Beine nicht ausschütteln, du kannst dich nicht hinlegen, du musst stehen", sagt der 17-jährige Schüler Till. "Es war heiß, und es gab wenig Luft", erzählt ein 50-jähriger Mann, der weit hinten stand. "Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn die Klappe zugegangen wäre. Dann wär das bisschen Luft weggewesen." Eine alte Dame steht neben der Ladefläche. "Wohin kommt denn das Gepäck", fragt sie fassungslos. "Alle hatten doch sicher ein bisschen Gepäck!"

71 Tote im LKW: Mahnaktion in Bochum
Seventy-one people stand in front of a truck during a public re-enactment referring to the 71 dead refugees found in the back of an abandoned truck, in Bochum, Germany September 2, 2015. The Bochum Theater and carrier Gerard Graf organized the event after 71 dead refugees were found in an abandoned refrigeration truck on an Austria highway last Thursday. REUTERS/Ina Fassbender
Nach den Minuten im Lkw sind die Menschen und auch Spediteur Gerard Graf sichtlich verändert. "So eine abstrakte Zahl, die möchte ich mit Leben füllen", sagt Graf. "Ich hoffe, dass wir mit dieser Aktion Öffentlichkeit erzeugen. Letztlich müssen aber die Politiker handeln. Diese Flüchtlinge sind ja nicht in Syrien eingestiegen, sondern in der EU. Sie waren ja schon in einem sicheren Raum."

Der leitende Dramaturg Olaf Kröck sagt: "Es ist unendlich wichtig, dass wir angesichts dessen, was in Europa passiert, Gegeninitiativen ergreifen." Einige haben angesichts der spektakulären und medienwirksamen Aktion zwiespältige Gefühle. "Mir gefällt eigentlich der stillere Protest", sagt ein 33-jähriger Arzt. "Da aber der Protest in Deutschland fehlt, sind wir jetzt hier." Kröck sagte, er habe die Menschen "für einen Augenblick" innehalten lassen und das Elend der Flüchtlinge sichtbar machen wollen.

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Die Kunst und die Flüchtlingsthematik

Schon längst zeigen Theater in ganz Deutschland Flagge und bringen Stücke zur Flüchtlingsthematik mitsamt den Betroffenen auf die Bühne. Sie protestieren mit künstlerischen Mitteln gegen eine Abschottung Europas. Das Leid Zehntausender Flüchtlinge, die in diesen Tagen Schutz in Europa suchen, kommt mit diesen grausamen Bildern besonders nahe.

Noch krasser als die Bochumer geht das Künstlerkollektiv "Zentrum für Politische Schönheit" vor, das aus Protest gegen die EU-Flüchtlingspolitik in Berlin tote Flüchtlinge bestatten ließ. Als "aggressiver Humanist" bezeichnete sich der Kopf der Gruppe, Philipp Ruch, im Spiegel.

Die Leiterin des renommierten Berliner Theatertreffens, Yvonne Büdenhölzer, sagte im April in einem dpa-Interview: "Es gibt ein neues politisches Theater." Das Flüchtlingsdrama sei derzeit eines der zentralen Themen für die Theater, und das nicht nur auf der Bühne, sondern auch mit zivilgesellschaftlichem Engagement.

Realität und Kunst vermischen sich bei der Inszenierung, indem oft dokumentarisches Material in die Stücke einfließt oder die Flüchtlinge gleich selbst auf die Bühne gebeten werden. So ließ Regisseur Nicolas Stemann für seine Hamburger Inszenierung von Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" - ein leidenschaftliches Plädoyer für schutzsuchende Flüchtlinge - Schauspieler und afrikanische Flüchtlinge gemeinsam auftreten.

Flüchtlinge erzählen ihre Geschichte

Syrische Flüchtlinge spielen auch im hessischen Biedenkopf Theater. In Mannheim ist im Oktober die Premiere eines Theaterstücks geplant, in dem Flüchtlinge selbst ihre Geschichte erzählen.

Performance-Kollektive machen die Zuschauer mit verstörenden Inszenierungen selber zu Akteuren und konfrontieren sie so ganz direkt mit dem Flüchtlingsleid. Die Berliner Künstlergruppe "machina ex" ließ vergangenes Jahr in Düsseldorf Zuschauer in der Live-Performance "Right of Passage" zu Flüchtlingen werden, die aus einem Transitcamp über eine fiktive Grenze fliehen sollen. Um Visa-und Asylanträge zu bekommen, müssen sie sich durch einen bürokratischen Dschungel kämpfen.

Kommt die Botschaft der Bühnen aber auch bei den Menschen außerhalb des Theaters an? Ob Aktionen, Geschichten über Flüchtlinge im Theater oder im Roman - "mir ist jedes Mittel Recht, um gegen eine offenbar immer noch teils rassistische und menschenfeindliche Haltung in Deutschland anzugehen", sagt der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke der Deutschen Presse-Agentur. Es fehle den Leuten an Wissen, "was flüchtende Menschen dazu bewegt, alles zu verlassen und ihr Leben zu riskieren, um hier anzukommen. Wir sprechen ständig von Globalisierung, stellen unsere schöne Welt im Netz bis auf die Haut aus, und wenn dann andere teilnehmen wollen, zünden wir deren Unterkünfte an...", sagt Rinke.

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