Wann, wenn nicht jetzt
Die Zeit war reif. Die ersten neun Jahrzehnte ihres Lebens ist Margaretha Toppelreiter nicht viel herumgekommen. Doch dann macht sie sich auf den Weg. Mit 90 Jahren. Da beginnt das große Abenteuer ihres Lebens. Ihr Pilgerweg nach Santiago de Compostela und die Reise zu sich selbst.
„Wissen Sie“, lächelt die alte Dame, die im adretten Kleid am Küchentisch ihres Hauses in Wartberg in der Steiermark sitzt, „mein Mann, der war gern zuhause und hat es gemütlich haben wollen“. Doch als sie Witwe geworden war, hielt es sie nicht mehr daheim. Sie wollte endlich die Welt sehen. Als Zehnjährige war sie von ihrem Geburtsort St. Marein im Mürztal zehn Kilometer nach Wartberg übersiedelt. Und einmal bei Verwandten in Südtirol gewesen. Mehr von der Welt kannte Margaretha Toppelreiter nicht.
„Wenn nicht jetzt, wann dann, hab ich mir gedacht“, sagt sie, und ihre wachen Augen beginnen zu strahlen, wenn sie vom Abenteuer ihres Lebens erzählt. Den Floh hatte ihr Enkelsohn Michael ins Ohr gesetzt, nachdem er selbst den ganzen Jakobsweg gegangen war. „Oma, das ist so etwas Großartiges. Du schaffst das ganz bestimmt.“ Ganz so sicher war sich Margaretha Toppelreiter zwar zunächst nicht, aber sie begann sich eine Strategie zu überlegen, um das große Ziel zu erreichen. „Zuerst hab ich mir gedacht, ich spare meine Kräfte. Doch dann habe ich aufmeinen Enkel und meine Tochter gehört und zu trainieren begonnen.“ Täglich setzt sie sich für eine halbe Stunde auf den Hometrainer und marschiert mindestens eine Stunde zu Fuß. Zwei Monate lang. Und sie trägt die Schuhe ein, damit sie nicht drücken. Gar nicht ohne, denn die Neunzigjährige hat gleich drei große „K“, die ihr mitunter Probleme bereiten: Kreuz. Knie und Knöchel. Dass sie scheitern könnte, befürchtet Margaretha Toppelreiter nie ernsthaft. „Man kann, wenn man will, man muss nur glauben dran.“
Zu viert brachen die Pilger nach Spanien auf. Toppelreiter, ihr Enkel Michael, ihre Tochter Maria und Susanne, eine Bekannte der Familie. Barbadelo war die erste Station etwa 120 Kilometer vom Ziel, Santiago de Compostela, entfernt. In Längstens 14 Tagen wollte das Quartett diesen letzten Teil des Jakobswegs absolvieren, in neun haben sie es geschafft. Luxus und Bequemlichkeit waren nicht angesagt. Geschlafen wurde nicht in einem eleganten Hotel, sondern in einer der vielen Pilgerherbergen, die den Jakobsweg säumen. Stockbett statt Himmelbett. „Wir hatten Isomatten und Schlafsäcke mit, da war das kein Problem.“ Und überhaupt: „Ich hab mich wie in einer großen Familie gefühlt. So viele tolle Menschen habe ich dort kennengelernt.“ Das Erkennungszeichen der Pilger: Sie tragen die Jakobsmuschel auf dem Gehstock oder am Rucksack – als Unterscheidungsmerkmal von „normalen“ Touristen. Menschen aus der ganzen Welt. Menschen, deren Sprache Margaretha Toppelreiter nicht spricht. „Aber ich konnte mich mit allen verständigen. Wenn nicht mit der Sprache, dann halt mit Händen und Füßen.“ Da war „die Frau mit dem Glücksklee“. Die hat nach einem ersten Treffen einige Stunden auf die Pilgerin aus der Steiermark gewartet, weil sie ihr ein vierblättriges Kleeblatt schenken wollte. Oder die junge Frau aus Brasilien, die sich so über ein Foto mit der Ausnahmepilgerin aus der Steiermark freute. Und die mittlerweile mehr als 1.600 Bewunderer, denen Toppelreiter auf Facebook über ihre Aktivitäten berichtet und deren „Likes“ ihr Kraft geben und Ansporn sind. Und auch den Schnarcher, der beinahe in jeder Herberge auftauchte und die anderen durch sein lautes Sägen um den Schlaf brachte. „Ich glaub, der hat uns verfolgt.“ In der Retrospektive ist sogar er eine liebenswerte Erscheinung.
Die Tagesetappen betragen etwa neun Kilometer, in zwei Wochen will Oma Toppelreiter, wie sie von ihrem Enkel genannt wird, mit ihren Gefährten am Ziel sein. Anfangs geht es flott voran. Um der Hitze des Tages zu entkommen, brechen die Pilger in aller Herrgottsfrühe auf. Mit Stirnlampe, weil es oft noch finster ist. Am fünften Tag allerdings kam der Einbruch. „Da konnte ich nicht mehr. Es war ein Gefühl, als hätte ich Bleikugeln an den Füßen.“ Da kamen dann die Gedanken an all jene, denen sie von ihrem Plan erzählt hatte und die entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatten: „Warum tust du dir das an?“ Doch nach einem Tag Pause geht es doch wieder weiter. „An den Abenden habe ich mich mehrmals gefragt, wie ich das geschafft habe. Aber der Weg trägt dich einfach.“ Was Margarethe Toppelreiter aus ihrem Abenteuer gelernt hat, hat sie in einem Buch niedergeschrieben. „Ich will ein Beispiel sein und Mut machen.“ Sie hält Vorträge, in denen sie erzählt, worum es wirklich geht im Leben: „Man muss Ziele haben, sonst wird das nix.“
Heute ist sie im 93. Lebensjahr und hat noch immer Kontakt zu mehren Menschen, die sie auf ihrer Pilgerreise vor zwei Jahren kennengelernt hat. Sie ist nicht immer gleich gut drauf, aber sie sieht die schönen Dinge: „Über jedes Blumerl, das auf einem Felsen wächst, kann ich mich freuen.“ Die Erinnerungen an ihr großes Abenteuer erlebt sie immer wieder neu. „Ich hab in den vergangenen Jahren mein Leben nachgeholt.“
Oma Toppelreiter: Mit 90 auf dem Jakobsweg, Camino Verlag, 19,90 €
Diese Verabschiedung von Entertainer und Kabarettist Hape Kerkeling, bekennender Couchpotatoe, als er sich auf den beschwerlichen Jakobsweg machte, wurde zum geflügelten Wort. Er beschreibt, wie man seinen inneren Schweinehund besiegt. „Ich bin dann mal weg“, Hape Kerkeling, Piper, 9,99 €.
Für Schauspielerin Shirley Maclaine ist es eine „Reise der Seele“, die 30 Tage dauert. „Der Jakobsweg, Eine spirituelle Reise“, Shirley Maclaine, Goldmann, 8,95 €.Der Jakobsweg ist nicht das Ende der Reise sondern erst der Anfang, fand René Freund‚ heraus. „Lesereise Jakobsweg - Zu Fuß bis ans Ende der Welt“, René Freund, Picus, 14,90 €. Die beste Anleitung zur Bewältigung des Weges schrieb Cordula Rabe. Auf 33 Etappen zeigt sie den Weg zwischen Ruhe und Gelassenheit abseits des Massenbetriebs. „Jakobsweg“, Cordula Rabe, Rother Wanderführer, 14,90 €.
Der Jakobsweg ist der berühmteste von allen. Es gibt ihn auch in Österreich und er ist Teil der europäischen Jakobswege. Die Nordvariante führt von Wolfsthal an der slowakischen Grenze über Wien, Linz, Salzburg und Innsbruck nach Feldkirch. Die Südvariante führt von Graz über Maribor, Villach, Brixen und den Brenner bis nach Innsbruck. Doch auch in Österreich gibt es eine Reihe von Pilgerwegen. Im Zentrum der meisten liegt Mariazell. Von Wien, St. Pölten, Eisenstadt, aber auch von Eibiswald und vom Nebelstein führen sie in den steirischen Gnadenort.
Der Hemmapilgerweg führt sternförmig aus mehreren Orten – etwa von Admont, der Turrach, Millstatt oder Ossiach nach Gurk, zur Heiligen Hemma, der Kärntner Landesheiligen. Die Via Margaritarium, der Perlenweg, verbindet insgesamt 18 heilige Orte von Mariazell über Lilienfeld, Eisenstadt, Loretto und endet in Ungarn in Mátraverebély-Szentkút.
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