Über den Wolken

Über den Wolken
Verfallene Villen, leerstehende Fabriken, vergessene Ruinen: Zwei Studenten fotografieren hinter den Fassaden Wiens. Nun stellen sie ihre Erkundungen aus: ab heute bis zum 04. Juli im WEST46.

Unten fährt die Polizei ihre Runden, oben zündet sich Ferdinand eine Zigarette an. "Da drüben, auf dieser Dachterrasse feiern die Bonzen gerade Party. Da könnte ich locker runterspucken." Wir sitzen auf einem Mauervorsatz in geschätzten 50 Metern Höhe, über uns die Sterne, unter uns die Lichter der Stadt. Der Wind pfeift durch Metallstreben, durchlöcherten Beton und treibt ein Plastiksackerl durch das leere Stiegenhaus. Neben Ferdinand sitzt Franz, die Arme am Geländer aufgestützt, die Beine baumeln ins Nichts. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Franz und Ferdinand in verlassenen Gebäuden herumtreiben. Die beiden Studenten sind Urban Explorer. Sie steigen in verfallene Ruinen einst herrschaftlicher Villen ein, erklimmen Baugerüste und Kräne, klettern hinab in die Kanalisation oder hinauf durch den Schlot einer stillgelegten Fabrik.

"An den Jalousien merkt man es immer", sagt Franz. Sind sie zerbrochen, durchlöchert, verschoben, steht das Haus aller Wahrscheinlichkeit nach leer. Dann suchen Franz und Ferdinand nach angelehnten Türen, offenen Fenstern oder unverschlossenen Hintereingängen. Seit 2012 begeben sich die Mittzwanziger hinter Fassaden und in luftige Höhen, zumeist mitten in der Nacht. "Uns interessiert die Stadt hinter der Stadt, die unerforschte, oft schmutzige Welt hinter Wiens Kulissen", erklärt Ferdinand die Motivation hinter den ungewöhnlichen Exkursen. Ihre Ausrüstung: Kamera, Mini-Stativ, Stirnlampe. Zunächst wählten die Stadterkunder klassische Spots der Urban-Exploring-Szene Wiens wie die Flaktürme oder den Wienfluss-Kanal. Mittlerweile ist jedes Baugerüst und jede Feuerleiter ein potenzieller Eingang. Dabei kommen immer wieder skurrile Fundstücke zu Tage. In einem alten Finanzamt stießen die beiden auf einen Stapel Pornohefte aus den Achtzigern. "Frauen mit extremen Dauerwellen und Männer mit Schnauzer im Glitzergilet", erinnert sich Franz grinsend. Die Schmuddelheftchen mit Sammelwert haben die beiden Urban Explorer nach kurzem Abwägen mitgenommen. Aber für gewöhnlich wird nichts eingesteckt. Ganz nach dem Motto, das auch in US-amerikanischen Nationalparks vorherrscht: Nimm nichts mit außer Fotos, lass nichts zurück außer Fußabdrücke.

Die Urban Explorer auf dem Dach der Votivkirche.

Spätnächtliche Begegnungen sind keine Seltenheit beim Urban Exploring. Einmal beschlossen Franz und Ferdinand nach einem Abend auf der Donauinsel, den DC Tower zu erklimmen und trafen unverhofft auf einen rührseligen Securitybeamten, der den beiden zunächst seine Lebensgeschichte erzählte und sie dann in den 32. Stock geleitete. Franz und Ferdinand vermitteln Vertrauen, beide sind eine besondere Mischung aus Lausbub und aufmerksamem Zuhörer, Abenteurer und Analytiker. Ihnen geht es nicht nur um Draufgängertum und den Kick des Verbotenen, sie interessieren sich für die Geschichte hinter den Gebäuden und die Charaktere, die hier im Schatten der Nacht umherstreifen. Ihre Erlebnisse dokumentieren die Studenten mit einer digitalen Spiegelreflexkamera. "Wir fotografieren bei unseren Erkundungen, um diese Orte den Menschen zugänglich zu machen. Davon lebt Urban Exploring." Dabei entstehen Zeugnisse von längst vergangenen Existenzen, die auf bedrückende, oft beinahe morbide Weise faszinieren. Die beeindruckendsten Bilder stellt Ferdinand anschließend auf den 2012 gegründeten Blog "Die 78er - Institut für Stadterkundung". Zwei Ausstellungen ihrer Werke hat das Duo bereits organisiert, am 24. Juni startet die dritte.

Franz und Ferdinand heißen in Wirklichkeit eigentlich gar nicht Franz und Ferdinand. Ihre echten Namen wollen die Studenten nicht veröffentlichen. Auch bei der Eröffnung der aktuellen Ausstellung werden die Studenten zwar vor Ort sein, sich aber nicht zu erkennen geben. Denn juristisch betrachtet, ist Urban Exploring eine Grauzone. Laut Rechtsanwalt Michael Borsky handelt es sich bei den Erkundungen um keinen Hausfriedensbruch – schließlich wohnt ja niemand mehr in den Gebäuden. Da sich die beiden Studenten nicht gewaltsam Zutritt zu den Gebäuden verschaffen, liegt auch keine Sachbeschädigung vor. Allerdings könnten Hauseigentümer womöglich auf Besitzstörung klagen.

Zwar trifft man ein obskures Gemisch aus Obdachlosen, Drogenabhängigen, Securities, Paintballspielern und Sprayern bei den nächtlichen Exkursen, doch die Polizei hat die beiden Erkunder noch nie erwischt. Und was wäre wenn? "Wir würden uns vollkommen bescheuert stellen. Das ist mein erster Tag. Wir haben das noch nie gemacht. Sowas in der Art."

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