Der Club der toten Dichter

Der Club der toten Dichter
Melancholie, Trauer, Totenkult. Auf dem Pariser Künstlerfriedhof Père Lachaise, der Pilgerstätte für Fans von Jim Morrison bis Frédéric Chopin, von Maria Callas bis Édith Piaf, erleben jedes Jahr Millionen Menschen ein Rendezvous mit ihren Idolen. „Der Tod muss so schön sein“, meinte Oscar Wilde, der auch hier ewiger Gast ist.

Krähen krächzen. Katzen schmiegen sich an Marmorsockel. Eichkatzerln springen übermütig in den Baumkronen von einem Ast zum anderen. Im Pariser Reich der Toten ist bei den Tieren von Trauer keine Spur. Auf einem der schönsten Friedhöfe der Welt. Dem „Cimetière du Père Lachaise“, der dem Beichtvater des Königs Louis XIV, François d'Aix de la Chaise, seinen Namen verdankt. Zwar wohnte er im Marais, von wo er sich jeden Tag mit der Kutsche nach Versailles bringen ließ – aber regelmäßig zog es den kirchlichen Intimus des Sonnenkönigs in seine prachtvolle Gartenanlage auf dem Mont-Louis, auf dessen Anhöhe er neben Fontänen und Orangerien auch den Blick auf Paris genoss. Heute befindet sich hier auf fast 44 Hektar der größte Friedhof Frankreichs. Die ersten, die man hier begrub, waren zwei unglücklich Liebende, die erst im Tod zusammenfanden: Héloise und Abélard. Man liest, sie sind in diesem Grab vereint, ils sont réunis dans ce tombeau. Heute ist ihre letzte Station noch immer Pilgerstätte für Verliebte aus aller Welt, die die Hoffnung nie aufgaben.

Einer der berühmtesten Père Lachaise-Bewohner, der irische Dandy und Dichter Oscar Wilde, hat schon zu Lebzeiten die melancholische Magie von Gräbern beschrieben: Der Tod muss so schön sein. In der weichen Erde zu liegen, während das lange Gras über einem hin und her schwankt, und der Stille zu lauschen. Längst ist er selbst hier ewiger Gast. Auf dem Gelände des hügeligen Clubs der toten Dichter. Seine Bestattung war völlig unspektakulär, zum Glück musste sie der Exzentriker nicht mehr miterleben: nur wenige Trauernde und ein einziger, bescheidener Kranz. Vom Besitzer des Pariser Hotels, in dem Oscar Wilde einsam und völlig verarmt, im Alter von nur 46 Jahren, gestorben ist. Inzwischen ist der Grabstein, den eine geflügelte Sphinx schmückt, zur Kultstätte für fanatische Bewunderinnen des Dichters geworden. Als Ausdruck der Verehrung bürgerte sich Ende der 1990er-Jahre ein Kuss-Ritual ein. Vor Kurzem erhielt das Wilde-Grab einen Lippenstift-Schutz, eine zwei Meter hohe Glaswand – zu sehr litt das denkmalgeschützte Monument unter dem Fett der Fan-Küsse. Nicht weit entfernt im Labyrinth der Gräber und Kapellen, Obelisken und Tempel, das in 97 Divisionen gegliedert ist, die letzte Ruhestätte der adorierten Kultfigur aus einer anderen Zeit: James Douglas Morris, der unter dem Namen Jim Morrison als Doors-Frontman zum meistbesuchten Toten auf dem Friedhof von Père Lachaise wurde. Am 3. Juli 1971 starb die amerikanische Rocklegende in einem Pariser Hotel, allerdings unter mysteriösen Umständen. Alkohol/Drogen/Herzversagen – alles ist möglich. An die zwei Millionen Fans besuchen jedes Jahr den Wallfahrtsort in der sechsten Division, der zweiten Reihe, die fünfte Grabstätte – die letzte Adresse von Jim Morrison.

Der Club der toten Dichter

Statt stiller Andacht schriller Totenkult, ständiges Gedränge, spirituelle Inspiration. Manche suchen hier, bei der Figur von transzendenter Bedeutung, Trost und Rat. Andere legen zur Erinnerung Joints, Whiskey- und Wodkaflaschen auf die Grabstätte. Umliegende Gräber werden zu Meditations-, Sitz- und Schreibflächen umfunktioniert, Friedhofswärter wachen darüber, dass es zu keinen Exzessen kommt. Um nächtliche Eindringlinge abzuwehren, wurden an der Außenmauer des Friedhofs mächtige Eisenspitzen angebracht. Viele Besucher der 70.000 Gräber flanieren über die mit Kopfsteinpflaster versehenen Wege. 1804, im Gründungsjahr, gab es lediglich 13 Gräber, in den ersten 100 Jahren seines Bestehens musste die Friedhofsanlage sechs Mal erweitert werden. Das Spazieren über den stimmungsvollen Friedhof ist wie ein Weg durch die französische Kulturgeschichte. Die letzten Ruhestätten von Balzac, Beaumarchais und Bizet, Chopin, Molière und Rossini laden zu einem Rendezvous mit Künstlern ein. Zur Zwiesprache mit verehrten, verblichenen Idolen. Mit Maria Callas und Gertrude Stein, Gilbert Becaud – ein winziger blauer Flügel ziert sein Grab – und Georges Moustaki, Sarah Bernhardt und Claude Chabrol. Und mit dem Spatz von Paris, Édith Piaf. Als sie im Oktober 1963 starb, defilierten drei Tage lang Hunderttausende Menschen in Zehnerreihen in einer kilometerlangen Schlange vom Wohnhaus der Piaf am Boulevard Lannes 47 bis zur Porte Dauphine, dem Eingang am Friedhof: Dabei hatte man der schmächtigen Diseuse – die durch Unterernährung zeitweise erblindet war – nach ihrem Leben ohne Kompromisse ein kirchliches Begräbnis verweigert. Weil sie in moralischer Dürftigkeit, mit einer verirrten moralischen Konzeption, in Unruhe und Illusion gelebt hatte. Auf dem schwarzen Marmor-Grabstein liegt dennoch eine große Christus-Figur. Zumindest sprach ein mutiger Abbé am offenen Grab Gebete für die Tote. Heute findet man auf dem Piaf-Grab neben Blumentöpfen und -sträußen, Gaben voller Sentimentalität: Medaillons, Schneekugeln, Nippes aus Porzellan, immer wieder Briefe an die verehrte Édith, wasserdicht in Plastikhüllen verpackt. Ein Grab als Abladeplatz für Seelennöte. Parce qu’elle a connu la douleur, weil sie den Schmerz erlebte …

André, mein Guide, ein gebückter alter Mann mit tieftraurigem Blick, der ab dem frühen Morgen hier Tag für Tag, wie einem Ritual folgend, herumschleicht, und immer wieder Touristen von Grab zu Grab führt, zeigt mir das Mahnmal zur ewigen Erinnerung an die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Eine beklemmende, hoch in den Himmel ragende Treppe. Dann deutet er nach links: Dort, hinter dem mächtigen Mausoleum eines asiatischen Moguls, steht eine schlanke Birke. Zart, aber dreistämmig. Wie aus einem Tschechow-Bühnenbild. Daneben ein schlichter Granitsockel, unter dem Frankreichs berühmtestes Filmpaar der Nachkriegszeit, Yves Montand und Simone Signoret, gemeinsam liegen. Ihre Lebenslinien haben sich manchmal getrennt. Jetzt sind die Liebenden für immer vereint. Aber nicht nur berühmte Künstler haben hier ihre letzte Ruhe gefunden. Auch angesehene Dynastien wie die Familie Rothschild. Ihre Grabstätte ist die einzige ohne Namen, nur der Buchstabe R ist in den Marmor eingemeißelt. Oder der Lehrer Allan Kardec. Ein Geist namens Zephyr teilte ihm eines Tages mit, es sei seine Bestimmung, Botschaften aus dem Jenseits zu empfangen und zu verbreiten. Am 31.3.1869 traf ihn der Schlag, als er dahinterkam, dass ihn sein Medium Célina, dem er detaillierte Kenntnisse aus dem Jenseits verdankte, jahrelang betrog und täuschte. Noch heute besuchen spiritistische Bewunderer – vor allem Frauen aus Lateinamerika – sein nach keltischer Sitte überdachtes Grab. Oder Monsieur Dobry, der Erfinder des Zippverschlusses. Sein Grab ziert von oben bis unten ein – Zippverschluss.

Oder der Kanonenmensch Louis Vigneron, dessen Grab mit jenem 305 Kilo schweren Artilleriegeschütz, das der Kraftlackel am Jahrmarkt immer auf seinen Schultern trug, bis ein Schuss losging, geschmückt ist. Oder der Dompteur Pezon, den sein Lieblingslöwe Brutus zerfleischte. Auf dem Grabstein erkennt man das verblasste Portrait eines Löwen. Viele Legenden ranken sich um den berühmtesten Pariser Friedhof. Wie jene vom pyramidenförmigen Grab. Wenn sich jemand darin ein Jahr lang einsperren lässt – ohne durchzudrehen – erhält er angeblich eine Prämie von einer Million. André, mein Guide, bestätigt mir, dass immer wieder Menschen aus aller Welt an die Friedhofs-Verwaltung schreiben, um die Teilnahmebedingungen für die Mutprobe zu erfahren. Doch nicht nur der Friedhof von Père Lachaise ist voller skurriler, bewegender Geschichten. Als die Rive gauche-Kultfigur, der Dichter und Philosoph Jean-Paul Sartre, seinen letzten Weg nahm, säumten mehr als 50.000 Menschen den Sarg. Sein Stammlokal blieb am Tag des Begräbnisses geschlossen. Erstmals seit der Gründung im Dezember 1927. Und seit damals nie wieder. Vor der Brasserie La Coupole stand ein Spalier von Herren in Schwarz. Die Kellner des Lokals. Davor mitten auf dem Gehsteig ein leerer Sessel. Sartres Stammstuhl. Über den Boulevard de Montparnasse ging es nicht zum Cimetière du Père Lachaise – sondern auf den Friedhof von Montparnasse. Doch darüber ein anderes Mal.

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