Bodenpersonal des Universums

Bodenpersonal des Universums
„Wenn nichts mehr zu tun ist, ist viel zu tun: Heilen – manchmal, lindern – oft, trösten – immer.“ Das Leitmotiv der Palliativmedizin. Um den letzten Abschnitt unheilbar Kranker lebenswert zu gestalten.
Von Ro Raftl

Für Anna ist der Tod ein Teil des Lebens, „nichts Fremdes“, nie gewesen. Sie kommt „vom Land“ und hat noch erlebt: „Wenn ein Mensch gestorben ist, hat man ihn zu Hause aufgebahrt und ist zum Beten hineingegangen.“ Stationsschwester Anna, der die Doktors nachsagen, „dass sie durch Wände sehen und hören kann und immer weiß, wenn wer was braucht“, steht hier „stellvertretend“ für das Pflegeteam von 17K, der Abteilung für Palliativmedizin im AKH Wien. Eine von 264 Einrichtungen in Österreich, um besser, beschützter, schmerzfreier zu sterben, doch die einzige, deren Leiter einen Lehrstuhl für Palliativmedizin hat.

Bodenpersonal des Universums

Leiter Herbert Watzke und ein Teil seines Teams

Herbert Watzke (rechts), schon vom Weitem imposant – zehn Jahre war er Nationalteam-Basketballer –, ist aus der Nähe die gütig noble Koryphäe in einem Fach mit zwei überlappenden Zweigen: „Der medizinischen Disziplin, die sich rasch weiterentwickelt und vorgibt, in welche Richtung das Feld bearbeitet werden soll. Ebenso aber der Palliative Care, einer Betreuungsdisziplin, bei der dem Pflegeteam die Schlüsselrolle zukommt. Sterben kann man nicht lehren, doch Lebensqualität ermöglichen, so gut es geht. Die Würde des Patienten erhalten, seine Autonomie.“ Zusatz: „Frauen leiden besonders daran, von fremden Händen gewaschen zu werden, so ausgeliefert zu sein.“ Nur wenige lachen so viel wie die Heurigenkellnerin, die ihren Krebs „Fridolin“ getauft und sich mit ihm unterhalten hat. Als hätte sie komplett ausgeblendet, was mit ihr passiert.

Wenn nichts mehr zu tun ist, ist viel zu tun: Heilen – manchmal, lindern – oft, trösten – immer. Der Satz eines französischen Arztes aus dem 16. Jahrhundert wurde zum Leitmotiv der internationalen Palliative Care-Bewegung, die immer breiter anerkannt, doch nach wie vor unterfinanziert ist von der öffentlichen Hand. Zum Mantra für Mediziner, Schwestern, Physiotherapeuten, Psychologen, Seelsorger: Der Patient steht im Mittelpunkt ihres Tuns. Doch während die Lebensuhr tickt, ist eine Palliativstation ein ganz normaler Arbeitsplatz.

Schwester Anna, gerade heraus, liebevoll, streng, gelassen, den leisen Humor einer klugen Mutter im Blick, ist eine der Säulen für das Bodenpersonal des Universums. „Ich hab gelernt, mitzufühlen, aber nicht mitzuleiden“, sagt sie. „Aufgehört, zu fragen: Warum müssen Kinder und ganz Junge sterben? Frag mich nur manchmal, warum jemand noch so viel mitmachen muss, wenn er alt ist.“ Sagt es abgeklärt, doch wenn dann ein 28-jähriger Mann an metastasiertem Darmkrebs stirbt, und in seinen letzten Lebensstunden Tumorreste, Blut und Stuhl erbricht, wird das gesamte Team im Dienst ein paar Nächte albträumen. Da hilft auch die Supervision zur Seelen­hygiene ein Mal pro Monat nur sehr bedingt. Manche versuchen, sich in die Philosophie zu retten wie Eva Masel, 31, ob ihrer unkonventionellen Leidenschaft für den Beruf, gekoppelt mit extremer Professionalität, von Kollegen bisweilen als „Palliativgöttin“ verklärt. Manche in die Musik wie der ausgebildete Pianist, Oberarzt Klaus Laczika. Er schaltet sein Handy aus, verordnet sich den kontrapunktischen Kosmos Bachscher Fugen, Suiten und Präludien. Masel arbeitet sich an sprachlich ausgefeilten Texten ab: „Wenngleich wir wissen, welche Vielfalt an Krebserkrankungen, Abweichungen und genetischen Mechanismen die naturwissenschaftliche Welt uns bietet, stehen wir am Ende vor Menschen und in ihren Leben.“ Das Bild dieses 28-Jährigen bekam sie wochenlang nicht aus dem Kopf: „Da versagt auch der geisteswissenschaftliche Zugang. Es bietet sich keine intellektuelle Erklärung an. Leid ist etwas Momentanes.“ Fragte folglich: „Sind wir Soldaten, sind wir Tänzer? Sollen unsere Narben unsere Panzer sein?“ Antwortete sich selber und der Welt: „Die einzige Chance, einen Soldaten zum Tänzer zu machen, sind die Mittel, die uns zur Verfügung stehen. Wir haben die Möglichkeit zu einer Schmerzbehandlung, zu Sedierung und Angstlösung, wir können einen Raum schaffen für Familie und Freunde, die einem Menschen, den sie lieben, beistehen möchten. Wir können helfen – aber ebenso auch trauern.“

Bodenpersonal des Universums
Die Palliativstation im AKH hat zwölf Betten, vier Einzelzimmer, ist freundlich, großzügig, bunt gestaltet, am „Dorfplatz“ empfangen Patienten Besuch, lesen, plaudern, spielen Monopoly. Alles friedlich. Eine Weißhaarige dreht ein paar Runden am Arm ihrer Schwester, eine Aschblonde humpelt an Krücken aufs Klo, ein gar nicht alter Mann lernt Rollstuhllenken. Zumeist Krebspatienten, Diagnose: unheilbar. Gestern ist einer gestorben. Die Medizin hat den Vortritt: „Wenn einer im Tumorschmerz die Wand hochgeht, ist es ein Holler, über die Seele zu sprechen“, sieht der Psychologe Michael Kirschbaum. Aber auch: „Mit dem Schmerz wächst die Angst und der Patient möchte reden. Wenn es einem von uns gelingt, eine Beziehung herzustellen, wird vieles möglich. Zuhören, sich selbst zurücknehmen, Fragen stellen, ist das Königsrezept, um Vertrauen aufzubauen. Eine humorvolle Bemerkung zum Lieblingskomponisten, zum Nachtkastlbuch, zur (altersadäquaten) Zeitgeschichte kann viele Knoten lösen. Eine Spezialbegabung von Klaus Laczika, dem politisch gebildeten Vielleser und Musiker, der nach 20 Jahren Intensivmedizin auf der Palliativ seine „wesentlichste menschliche Erfahrung“ macht. Soviel ist klar: „Jeder Patient bringt alles mit, alles Positive, alles Dunkle, mit dem er gelebt hat. Wir bekommen das umfassendste Bild. Manchmal können wir zu Versöhnungen beitragen“, sagt Kirschbaum. Es gilt, jede Botschaft zu entschlüsseln. Individuell. Geht ja nicht nur um höchste Dinge, um Spiritualität, oft um irdische Sorgen: Testament, Geld, Wohnung, Familie, die letzte Reise, den großen Wunsch: Zum Geburtstag des Zehnjährigen noch einmal daheim zu sein.

Seelsorgerin Christiane Cap etwa, ein Rufzeichen zum „Hier und Jetzt“, kennt sich auch im Diesseits aus: „Viele suchen Schutz im Spital, Geborgenheit, wollen die Angehörigen nicht belasten. Schon gar nicht mit einer Wohnung, in der gestorben worden ist.“ Man möge aber nicht an ständiges Leid denken: Im Team mit ehrenamtlichen Helfern werden die kreativen Passionen der Patienten gepflegt Viel schwerer sei allerdings der Abschied der Ameisenfleißigen, die „schön leben“ auf die Pension verschoben haben, als jener Grillen, die noch in Erinnerung singen: Glücklich geliebt und genossen. Wär noch fein gewesen, aber ... ein siebentes Siebentel muss nicht mehr dran.“ „Jeder Patient kann jede Behandlung verweigern. Genauso ,Chemo! Chemo!“ fordern bis zum Schluss. Auch das ist Teil der Würde,“ sagt Watzke, unter vielem Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft. Die Visite, „das Hochamt“ im Jargon der Station, ist den Patienten wichtig. Leichtes Schmunzeln: „Denken wohl, so lange sieben Leute um mich herumstehen, steht der Tod noch nicht herum. Manche fragen coram publico: Wie lang habe ich noch? Andere verlangen Schonung der Familie. „Zuletzt ein Albaner mit erwachsenen Kindern“, sagt Schwester Anna. „Er wusste, wie es um ihn steht, wollte es weiter verbergen. Die Kinder wiederum baten, ihm nicht zu sagen, wie schwer krank er ist. Da sind Worte wie sterben und Tod tabu, darf nur die Andeutung, dass die Reise nach unten geht fallen.“ Respekt. Selbst vor der „Wird-schon-werden-Lüge“. Dagegen Seelentrösterin Cap: „Es führt zu Sprachlosigkeit, wenn die wirklichen Dinge ausgeklammert werden. Wer sich der Wahrheit stellt, kann echten Frieden machen.

„Man spürt fast, wie die Seele entweicht. Sieht die Hülle, und an ihr das, was fehlt“, philosophiert der Chef. Irgendwann erwischt alle die Trauer, „am heftigsten bei Patienten, die man selber aufgenommen hat“. Die junge Schwester bei einer Visite. Vor der Tür fing sie zu weinen an: „Die Patientin mit dem unheilbaren Krebs war gleich alt und hatte zwei Kinder wie sie. „Sie musste lernen: Das bin nicht ich und es sind nicht meine Kinder. Doch es blieb ,ihre’ Patientin bis zum Schluss“. Herbert Watzke weiß, „dass es einen treffen kann wie ein Schlag. Der Blick in das Zimmer des jungen Mannes mit dem Sarkom, von dem wir wussten, er wird nicht mehr nach Hause gehen: „Er sah haarscharf wie mein Sohn aus, 22, schwarzer Schopf. Ich hab mich lang nicht in sein Zimmer getraut. Junge Ärzte sind noch viel stärker betroffen.“

Sophie Schur ist 28, und „ein wahres Kind der Station seit dem Studium“. Rotiert in der Ausbildung durch viele Abteilungen, will aber nur „dorthin zurück“. Fragt sich selbst, weil sie so viele andere – durchaus mit Bestürzung – fragen, wieso sie die Palliativ gewählt hat, „oder sie wohl eher mich“. Sagt, sie beginne es erst selber langsam zu begreifen ... Erklärt, dass sie besser verstehen und fühlen kann, was gebraucht wird, sich entwickelt, wenn sie die Menschen anfasst: „Gerade unsere Patienten die oft so ausgezehrt, eckig und kantig sind, körperlich und persönlich, und oft lange nicht mehr berührt wurden, egal auf welche Weise. “

Innovative Medizin will sie machen: „Wo kannst du mehr Pionier sein, als bei uns?“ Vom humanistischen Zugang gleichermaßen fasziniert wie vom wissenschaftlichen: „Wir werden uns das eigene Ende niemals vorstellen können, nie eine gültige Wahrheit parat haben, keine Formeln oder Gleichungen die uns Gewissheit geben aber jeden Spielraum, jede Erwartung, jeden Lichtblick nehmen können. Auch Hoffnung ist Autonomie. Oh ja, und weil der Humor bei uns (für manche auf unvorstellbarere Weise) zu Hause ist – und oft meine letzte Bastion. Weil ich so unendlich viel lachen kann wie weinen, so berührt wie leichtherzig sein ...“. Schwester Anna ist einverstanden.

Man muss sich nicht mehr vor Schmerzen krümmen. Man kann selbst bestimmen, wie man reisen möchte. Worüber man reden, wie viel man wissen will. Was man auszuhalten und anzunehmen bereit ist. Man kann sich in einen Tiefschlaf versetzen lassen, wenn Angst und Schmerzen am Lebensende nicht mehr anders beherrschbar sind. Und eine Patientenverfügung hinterlassen. Für den letzten Akt. Im Zweifelsfall fragen die Ärzte die Angehörigen, ob der Sterbende Hinweise zu seinem Finale gab.

Bücher zum Thema

Palliativmedizin. Grundlagen und Praxis“, Stein Husebö / Eberhard Klaschik (Springer)

„Sterben und Leben: Spiritualität in der Palliative Care“, Cicely Saunders und Martina Holder-Franz (TVZ )

„Wie wir sterben lernen“, Christian Schüle (Pattloch)

Kommentare