Myanmar: Ein Land wie kein anderes

Myanmar: Ein Land wie kein anderes
Reise nach Burma, einem Vielvölkerreich im Aufbruch, das abseits der Städte aus seinen Besuchern immer noch Zeitreisende macht. Ein wundersamer Trip durch das Asien der 50er-Jahre. Von Karl Riffert

Wer nach Burma reist, kommt aus der Zukunft. Denn hier schreibt man erst das Jahr 1377. So will es der burmesische Kalender. Die Woche hat acht Tage, weil der Mittwoch geteilt wird. Logisch. Und das Jahr zählt nur drei Jahreszeiten. Warum auch nicht? Minglabar (hallo), willkommen in Myanmar, dem früheren Burma, das von vielen Einheimischen und Touristen noch immer nach der alten britischen Bezeichnung Birma genannt wird. Der Wetterbericht heute für Yangon – unter den Briten hieß die einstige Kapitale des Landes Rangun: 26 Grad und warmer Monsun-Regen; die Luftfeuchtigkeit ist drei Mal so hoch wie in Wien.
Dies ist ein Land, wo es immer noch keine einzige Starbucks- und nicht eine McDonalds-Filiale gibt, dafür aber mehr Pagoden pro Einwohner als irgendwo sonst auf der Welt. Anders als im nahen Vietnam, wo millionenfache Moped-Schwärme die Städte durchfluten, sind Motorräder in Yangon verboten. Hier ist alles ein wenig Ying und ein wenig Yang. Die Burmesen sind ein freundliches, sanftes Volk und lebten doch jahrzehntelang in einer grausamen Diktatur. Der Buddhismus predigt Sanftmut, aber noch bis 1857 wurden Menschen unter Palästen lebendig begraben, um als Geister die Schönheit der Bauwerke zu bewahren.Seit der politischen Öffnung 2011 blüht der Vielvölkerstaat, in dem neben Burmesisch weitere 116 Sprachen gesprochen werden, auf. Der Boom ist gut für Millionen Habenichtse, denn der lange isolierte Staat zählt zu den zehn ärmsten Ländern der Welt. Für Besucher bedeutet das: Wer das wundersame Asien der Fünfziger mit Ochsenkarren und Frauen in Wickelröcken, den Longyis,sehen will, wer dieses fantastische, vielleicht sogar schönste Land Asiens erleben möchte, ehe die Woge des Massentourismus hereinschwappt, muss sich sputen. 2010 besuchten gerade 300.000 Touristen Myanmar, 2014 waren es zwei Millionen, nächstes Jahr sollen es bereits drei Millionen sein.

Der Flug von Bangkok mit einer tadellosen Billig-Airline nach Yangon kostet umgerechnet etwa 30 Euro. Auch wenn Touristen im Rest des Landes noch eine Sensation sind, hier hat die Zukunft schon begonnen und die Hochhäuser und Immobilienpreise wachsen in den Himmel. Wir fahren langsam an jener Villa in der University Street 54 vorbei, wo Burmas populäre Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi 15 lange Jahre inhaftiert war. Es ist ein hübsches Haus am Royal Lake, den einst die Briten anlegten, um ihre Ruderboote übers Wasser zu jagen – so wie zuhause in Oxford bei den legendären Boat Races. Fast sieben Jahrzehnte lang, bis 1948, war Burma eine britische Kolonie, die übrigens die meiste Zeit von Indiens Hauptstadt Delhi aus regiert wurde. Aung San Suu Kyis Vater, der später einem Attentat zum Opfer fiel, handelte die Unabhängigkeit aus und gilt seither als burmesischer Nationalheld. Lange, erzählt der Barkeeper im berühmtesten Hotel der Stadt, „The Strand“, war er auf jedem Geldschein zu sehen. Wegen seiner unbeugsamen Tochter fiel aber auch der Vater bei den Generälen in Ungnade. Und so zieren heute nur mehr Tiere die Banknoten Myanmars.

Vieles erinnert aber immer noch an die Briten: die Altstadt Yangons, die Schuluniformen der Kinder, die Teehäuser im ganzen Land. Der einstige britische Boat Club am Royal Lake ist heute eine der besten Luxusherbergen in Burmas ehemaliger und immer noch heimlicher Hauptstadt. Das Kandawgyi Palace beherbergt das feinste Restaurant der Stadt, das Agnes. Hier kann man nicht nur frischen Hummer schlemmen und aus 200 Weinsorten wählen, man hat abends von der Terrasse dieses französischen Gourmettempels einen magischen Blick auf die berühmte, auf einem Hügel liegende und prächtig vergoldete Shwedagon-Pagode, das Herz Burmas. Von ihr heißt es, sie sei mit mehr als 7.000 Diamanten und mit mehr Gold verziert, als im amerikanischen Fort Knox lagerten. Der wichtigste Schatz aber sind für die Burmesen die acht Haare Buddhas in ihrem Inneren. Wer staunend die riesige Tempelanlage durchwandert, wird nicht nur von der verschwenderischen Pracht in diesem bettelarmen Land überrascht sein, sondern auch von den Opfergaben der Gläubigen, deren Charaktereigenschaften nach burmesischem Glauben der Geburtstag bestimmt. Ob man ein Tiger oder eine Ratte ist, hängt davon ab, ob man Montag oder Donnerstag geboren wurde. Die Burmesen auf dem Land lieben übrigens Ratten – und zwar frittiert mit Palmzucker. Aber wenn es um das nächste Leben geht – und das kommt bestimmt – gibt es Regeln: Man opfert Käse für Weisheit, Rauchstäbchen für Berühmtheit, Blumen für Schönheit und geweihtes Wasser gegen Sünden. Wer allerdings im nächsten Leben nur mehr Business-Class fliegen möchte, wird mit der Frage, was er opfern soll, alleine gelassen.

Szenenwechsel. Das 1901 erbaute Hotel The Strand war einmal eines der fünf mondänsten Hotels des britischen Empires. Hier wohnten literarische Größen wie George Orwell, Noël Coward, Somerset Maugham und Rudyard Kipling sowie allerlei illustres Personal von Mick Jagger bis Oliver Stone. The Strand ist wie das Raffles in Singapur ein sorgfältig renoviertes Kolonialhotel, allerdings ohne angebaute moderne Wohntürme und Swimmingpool. Es liegt am Ufer des Irrawaddy, wo wir am nächsten Morgen ein besonderes Schiff besteigen werden, die Orcaella.
Vorerst aber wird im Strand in einem geeisten Glas ein legendärer Kolonial-Cocktail serviert, der Pegu, ein perfekter Drink für die Tropen, der vorwiegend aus Gin, Curaçao und Limettensaft besteht. „Wussten Sie, dass in Burma auch Wein gemacht wird?“, fragt Arthur, ein Geschäftsmann aus London, der für einen Automobilkonzern arbeitet. Und er erzählt: „Zwei Deutsche haben sich 1998 in der Nähe des Inle-Sees niedergelassen und haben mit 400.000 importierten französischen Reben begonnen, erstmals Wein in Burma zu produzieren, vor allem Chardonnay und Sauvignon Blanc. Sie nennen sich Red Mountain Estate und die Reben gedeihen prächtig, nur dass man in den Weingärten öfter mal eine meterlange Python-Schlange entdeckt.“ „Interessant“, findet ein anderer Bar-Gast, „aber wussten Sie, dass Yangon auch ein Filmmuseum hat? Der erste burmesische Film hieß Love & Liquor und wurde 1920 gezeigt. Am Ende mussten die Kinobesucher noch God Save The King singen.“ Pegu macht offenbar redselig.
Am nächsten Tag schippern wir den Irrawaddy-Fluss hinauf, der irgendwo weit in den Hochgebirgen des Nordens in zwei Quellen entspringt und träge durch dieses weite Land fließt, das doppelt so groß ist wie Deutschland, um dann in der Andamanischen See in den Ozean zu fließen. Unser Schiff, die bereits erwähnte Orcaella, ist nicht irgendein Flussdampfer. Es ist das luxuriöseste Schiff auf Binnengewässern in ganz Asien. In den 25 Designer-Kabinen der Orcaella, die nach den Fluss-Delfinen des Irrawaddy benannt ist, findet man alles, was Luxusreisende des 21. Jh. gerne mögen, von der Bulgari-Seife bis zum DVD-Player. Es gibt sogar ein eigenes Spa an Bord. Es ist, als ob man in einem Raumschiff mit Stewardessen in schmucken Uniformen auf einer magischen Zeitreise irgendwo in einer vergangenen Welt landet – bei freundlichen Menschen, die mit Ochsenkarren unterwegs sind und fast so leben wie vor fünfzig Jahren.
„Dies ist Burma – und es wird wie kein anderes Land sein, das du kennst“, schrieb Dschungelbuch-Autor Rudyard Kipling, der 1889 als 24-Jähriger den Irrawaddy hinauffuhr. Mit 27 erhielt er dann den Literaturnobelpreis. Sein berühmtestes Gedicht heißt Road to Mandalay und erzählt von einem britischen Ex-Soldaten, der einst in Burma war und jetzt im kalten, regnerischen London von der Magie der Tropen träumt und von einem burmesischen Mädchen, das auf ihn wartet:
Bei der alten Moulmein-Pagode/ Ostwärts zum Meer blickend/ Sitzt ein Burma-Mädchen / Und ich weiß: Sie denkt an mich /
Denn der Wind weht durch die Palmen / Und die Tempelglocken rufen mir zu / Komm zurück, Britischer Soldat / Komm zurück nach Mandalay ...

Auch wir sind auf dem Weg nach Mandalay, wo der gute alte Kipling übrigens niemals war. Die Orcaella hat jetzt bei einem kleinen Dorf namens Danuphyu angelegt, denn die Dämmerung bricht schnell wie ein Donner über den Fluss.

Der Irrawaddy ist seicht, oft nur zwei Meter tief und voller tückischer Sandbänke, weshalb auf ihm kein Schiff in der Nacht unterwegs ist, auch nicht das unseres Kapitäns U Than Tun, der diesen Fluss schon seit 26 Jahren befährt und vielleicht, wie er lachend meint, besser kennt als seine Kinder.
In der Küche der Orcaella herrscht jetzt reger Betrieb, die 36 Gäste an Bord sind anspruchsvoll. Wer zu zweit in einer Suite 11.000 Euro ablegt, möchte es fein haben, so wie neun reiche Damen aus São Paulo, die alle nur die Brazilian Angels nennen. Das Zepter in der Küche schwingt eine resolute Thailänderin mit einem Namen, den man gleich wieder vergisst. Sie heißt Bansani Nawisamphan und die Liste der Hotels, in denen sie schon aufgekocht hat, ist beeindruckend: Im Fünfsterne-Designklassiker Sukothai in Bangkok, im Raffles in Singapur, im Maya auf den Seychellen, im Belmond Ubud auf Bali – ja, und jetzt hier. Sie hat elf willige, aber ungelernte Hilfskräfte in ihrer kleinen Küche: „Ich muss ihnen alles beibringen“, sagt sie, „einer war vorher Barkeeper, der andere Apotheker.“ Alles, was importiert werden muss, zum Beispiel australische Steaks oder französischer Käse, kommt über einen Großhändler aus Singapur nach Yangon. Der Rest wird lokal gekauft, auf den Märkten.
Am nächsten Morgen werden die Gäste der Orcaella mit Rikschas zu einem kleinen Dorfmarkt gefahren. Die Einheimischen freuen sich über den seltenen Besuch, bald werden sie in den Touristen vor allem eine willkommene Einnahmequelle sehen. Wir sind im Dorf zum Tee eingeladen. Grüne, leicht fermentierte Teeblätter mit Sesam-Öl, Gewürzen und Erdnüssen werden gereicht, die Orcaella aus dem 21. Jahrhundert liegt am Ufer. Das Leben scheint ein langer, ruhiger Fluss.
Die Reise auf dem Irrawaddy ist fast eine meditative Erfahrung. „People don’t take trips“, schrieb einst der amerikanische Romancier John Steinbeck, „trips take people.“ Es geht vorbei an einer endlosen Zahl kleiner Pagoden an den Ufern, an Bananenbäumen und Reisfeldern. Die britischen Kolonialherren hinterließen nicht nur bröckelnde Bauten, sie machten Burma zeitweise zum größten Reisexporteur der Welt. Und wenn sich die Botaniker nicht gänzlich irren, kommt die Ur-Banane genau von hier. Erst portugiesische Seefahrer brachten die Bananenpflänzchen von Burma nach Südamerika, wo sie uns inzwischen als dicke, lange Chiquitas erquicken. Große Teile Myanmars, speziell im Norden und an der Küste, sind immer noch mit urwüchsigen Regenwäldern bedeckt, in denen sich Elefanten, Tiger, Leoparden, Himalaja-Bären, Affen und jede Menge Schlangen tummeln. Burma ist übrigens das Land mit der weltweit höchsten Schlangenbiss-Todesrate. Auf der Orcaella aber ist die größte Gefahr für die Passagiere drohendes Übergewicht.
Irgendwo zwischen Yangon und Mandalay taucht einige Tage später eine legendäre Stadt auf: Bagan. 2.230 Pagoden, oder genauer: was davon übrig blieb, warten hier auf den Besucher. „Der Gesamtanblick vom Fluss wirkte wie ein Schauplatz von einem anderen Planeten, so phantastisch und außerirdisch war die Architektur“, berichtete der britische Kolonialbeamte Henry Yule Mitte des 19. Jahrhunderts. Und Cees Noteboom, der vielreisende Bestsellerautor unserer Tage, verglich die Pagoden von Bagan mit „gestrandeten Titanics, die in der verlassenen Ebene liegen“.
Bagan ist immer noch von magischer Schönheit, aber der Tourismus ist hier bereits angekommen. Hotels wurden mitten in das Tempelgebiet hineingeknallt, Autobusse umschwirren die Tempel, umtriebige Verkäufer jagen mit Mopeds nach Touristenschwärmen. Wir fahren mit einem Ochsenkarren in der Abenddämmerung durch diese spirituelle Wunderwelt. Vor drei Jahren sei er noch einfacher Bauer gewesen, erzählt unser Fahrer, aber seit sich das Land öffne, kämen die Besucher aus aller Welt und brächten den Bewohnern Bagans Wohlstand. Mit der Ruhe sei es seither aber leider vorbei.
Wir halten vor einem der schönsten Bauwerke in Bagan, dem aus roten Ziegeln erbauten, mächtigen Ananda-Tempel, der die meisten anderen Pagoden überragt. Man kann ihn von vier Seiten aus betreten und immer begegnet man im Inneren einer riesigen Buddha-Statue, deren Gesichtsausdruck sich unmerklich ändert, je näher man ihr kommt. Mein Buddha lächelt. Oder doch nicht? „This is Burma“, notierte Rudyard Kipling, „and it will be unlike any land you know about.“

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