Höhenrausch

Gebetsfahnen schmücken Tempel und Anhöhen. Sie sollen Mantras und gute Wünsche zu den Göttern bringen
Von Kathmandu nach Lhasa und hinauf zum höchsten Kloster der Welt. Auf dem schier endlosen Weg über Berge und Täler erlebt man nicht nur manch göttlichen Moment, sondern begegnet am Ende sich selbst. Von Fritz Bauer

Es ist schon gut 50 Jahre her, dass Kathmandu in der westlichen Welt seinen legendären Ruf begründete. In den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckten farbenfrohe Hippies und kühne Bergsteiger fast gleichzeitig eine Stadt, die für beide Ausgangspunkt hochfliegender Träume war. 1971 war ich zum ersten Mal da. Nicht als Bergsteiger ... Vieles hat sich inzwischen in der Welt geändert. Kathmandu aber ist fast gleichgeblieben. Nur die Blumenkinder sind nicht mehr da. Und es gibt jetzt Internet-Cafés und Latte Macchiato.

Ich spaziere vorbei an den Tempeln und lass’ mich treiben in der lebendigen Fülle des Bazars mit seinen 1.001 Farben und Gerüchen. Dann geh’ ich zu einem Rendezvous. Dem Rendezvous mit einer Göttin. Sie heißt Kumari. Die Nepali glauben, dass die Welt und insbesondere der Himalaya das Werk der Urgöttin Durga sind und dass sich ihre schöpferische Energie, das Shakti, in einem jungen Mädchen, der Kumari, manifestiert. Ähnlich wie der Dalai Lama wird es mittels komplizierter Rituale gefunden und dann in den Kumari Chen, den Palast der Kumari, gebracht. Dort bleibt es umgeben von buddhistischen Mönchen bis zur ersten Menstruation. Denn die Kumari darf keinen einzigen Tropfen Blut vergießen. Schon die kleinste Wunde würde sie ihrer göttlichen Energie berauben. Selbst der König und der Premierminister des Landes müssen vor ihr die Knie beugen, wenn ihre Herrschaft unter einem guten Stern stehen soll.

Heiligtümer und magische Momente: Der ehemalige Sitz des Dalai Lama, der Potala-Palast in Lhasa (gr. Bild), und ein Detail des Stupa von Bodnath in Kathmandu (kl. Bild).

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Als ich den Innenhof dieses Palastes gleich beim Durbar Square und in der Mitte des Tempelbezirks betrete, hat sich dort schon eine bunte Schar von Pilgern und Touristen versammelt. Alle warten. Warten darauf, dass sich die hölzernen Fensterläden im ersten Stock öffnen und sich die lebende Göttin zeigt. Plötzlich ist sie da. Geschminkt und in prächtigen Kleidern. Ein Raunen geht durch die im Innenhof versammelte Menge. Die Kumari nimmt Platz, sie thront über den Köpfen der Menschen, es wird still. Atemlos still. Ihren größten Auftritt hat die Kumari beim jährlichen Dashain, dem wichtigsten religiösen Fest Nepals. In einer prächtigen Prozession wird sie auf einem von Wasserbüffeln gezogenen Wagen durch die Stadt geführt. Das Dashain-Fest erinnert an den Sieg der Göttin Durga über den Büffel-Dämon. Und jedes Jahr bezahlen acht Büffel und 108 Ziegen dafür mit dem Leben. Ihre Kehlen werden von den scharfen Kukri-Macheten der Gurkhas – einst Elitesoldaten im Solde Englands – durchtrennt. Ihr Blut ist ein Opfer an die Göttin. Am Abend sind wir im Haus von Tshering, dem Chef unserer Sherpas, eingeladen. Es gibt Everest-Bier und viel Whiskey, während seine Frau und ein Sherpa in der Küche Momos zubereiten, mit Yakfleisch gefüllte Teigtaschen, im Aussehen ähnlich unseren Kärntner Nudeln. Ich frage Tshering, was mit einer Kumari geschieht, wenn sie zur Frau wird. Tshering schenkt mir Whiskey ins halbvolle Glas nach. "Die einen sagen, dass sie zu ihrer Familie zurückkehrt und in der Schule nachlernt, was sie versäumt hat. Die anderen aber …"

Er beugt sich zu mir: "Hindus behaupten, dass kein Mann sie zu berühren wagt, denn Schlangen würden aus ihrem Leib kriechen und ihn entmannen." Er macht eine bedeutungsvolle Pause, nimmt einen Schluck und zuckt die Schultern: "Für die Maoisten ist die Kumari ein Aberglaube und längst überholte Tradition, doch selbst sie verbeugen sich vor ihr. Für die anderen ist sie ein Mythos, der die Seele fliegen lässt, weit über die Gipfel des Himalaya, dorthin, wo die Götter wohnen … "

Die Trekkingtaschen aufgetürmt auf den Dächern unserer Jeeps verlassen wir nach drei Tagen Kathmandu und nähern uns auf holprigen Straßen und entlang schwindelnder Abgründe der Grenze Tibets, das seit der "Befreiung" durch Mao Zedong im Jahr 1951 Teil Chinas ist. Der Grenzort heißt Zhangmu und klebt wie ein Schwalbennest an steilen Berghängen. Eine Brücke spannt sich über den engen Canyon, in dem der Bhote-Koshi-Fluss tobt. Es ist ein Canyon, der zwei Welten trennt. Auf der einen Seite das bunte Chaos Nepals, auf der anderen Stahl, Beton und Glas des modernen China. Die Einreise erfolgt zu Fuß, vorbei an strammen chinesischen Soldaten. Wir werden fotografiert und das Gepäck wird durchsucht. Mein Reiseführer wird wegen der Bilder des Dalai Lama darin konfisziert. Doch ich bin glücklich, dass es meine Mailänder Salami und das Südtiroler Schüttelbrot schaffen, die ich als eiserne Reserve für die kommenden Zeltnächte beim Trekking mitgenommen habe. Dann geht es aufwärts auf einer mit Reisigbesen gekehrten Beton-Straße hinauf zum Dach der Welt. Endlose Weite in Pastelltönen von Braun, Ocker, Gelb und Golden mit grünen frühlingshaften Pelzbesätzen dazwischen. Dahinter und wie eine zackige, weiße Bordüre am Horizont, die schneebedeckten 8.000er, Cho Oyu und Everest inklusive. Wir sind noch nicht an die Höhe gewöhnt und wie in einem Rausch. Auf der ersten Passhöhe, dem Thang La in 5.050 Meter, habe ich das Gefühl zu schweben als ich aus dem Jeep steige. Wie in Watte eingepackt schreite ich mit weichen Knien von der Straße weg in die endlose Ebene hinein, das Herz wird weit, endlos weit und verliert sich in dieser fremden, bezaubernden und doch so kahlen Welt aus Stein, Kiesel und Sand. In der Ferne zieht ein Radfahrer über die weiten Kehren den nächsten Pass hinauf. Ich denke daran, wie er bald hinuntersegeln wird auf der schmalen Straße aus Beton, hinunter in einen tosenden Canyon. Wir hängen Gebetsfahnen auf, binden Gebetsschals um Steintürmchen, werfen Gebetszettel in die Luft und schreien "Lha Gya-lo" – "Die Götter mögen siegen" in den Wind … Kurz, wir sind außer uns. "Natural High", diagnostiziert unser Doktor lächelnd. Noch viele Pässe liegen vor uns und wir werden uns an die Höhe bald besser gewöhnen. Aber das Gefühl, auf diesem weiten, wüsten Dach der Welt zu stehen, werde ich nie vergessen. Wie nur kann so wenig so viel sein.

Inzwischen befinden wir uns auf dem 800 Kilometer langen Friendship Highway – Ruinen ehemaliger Klöster säumen den Weg, die Opfer des revolutionären Eifers von Maos Roten Garden wurden. Tausende sollen es gewesen sein. Nur das Ta-Shi-Lhun-Po-Kloster in Shigatse mit einer 26 Meter hohen Buddha Statue und die exquisiten Malereien des Kumbum in Gyantse zeugen noch von der einstigen Raffinesse und dem Reichtum der buddhistischen Kultur. Ein offizieller Reiseleiter begleitet uns jetzt und im Gespräch mit ihm nähere ich mich vorsichtig dem Thema der kulturellen Divergenz zwischen dem tiefgläubigen Tibet und der chinesischen Überzeugung, dass Religion Opium für das Volk sei. Er heißt Lhakpa Dorjee, was sich als "Mittwoch Juwel" übersetzt. Weil er an einem Mittwoch geboren ist, erklärt er mir lächelnd. Er stamme aus einer tibetischen Familie, die ihm als Kind den Zugang zum chinesischen Unterricht verwehrte. Doch er erkannte, dass auch für den Fortschritt Tibets der von Mao gepredigte "Große Sprung nach vorn" notwendig sei und lässt eine gewisse Herablassung für seine Landsleute durchblicken, die dies offensichtlich nicht begreifen wollen. Noch deutlicher wird der Konflikt zwischen Tibet und China in Lhasa. Wir haben den Transhimalaya verlassen und fahren durch eine weite Ebene mit Gerstenfeldern und Pappelwäldern. Da taucht in der Ferne auf einem Hügel der Potala-Palast auf, 13 Stockwerke hoch und mit 999 Räumen, Weltkulturerbe und das Wahrzeichen von Lhasa. Einst war er die Residenz des Dalai Lama und das Epizentrum buddhistischer Macht. Jetzt ist er eine Touristenattraktion und die wenigen verbliebenen Mönche wurden zu Museumswärtern. Zu seinen Füßen breitet sich die Stadt aus. Doch was für eine. Das Stadtbild erinnert mich an eine amerikanische Stadt des Mittelwestens mit einem Schuss Ostberlin. "Sind wir in Las Vegas gelandet?", fragt sich einer meiner Reisegefährten laut.Im Kontext wirkt die tibetische Altstadt rund um den Jokhang-Tempel museal. Der Jokhang ist eines der wichtigsten Heiligtümer der Buddhisten, die ihn in einer sogenannten "Kora" rituell umrunden und dabei den Weg mit ihrem Körper ausmessen. Der Zugang wird streng kontrolliert von chinesischen Polizistinnen in eleganten schwarzen Uniformen. Ihre herablassende Geringschätzung für die Tibeter, die sich vor dem Tempel zu Boden werfen, ist nicht zu übersehen.

Rongbuk, das höchste Kloster der Welt, bietet den besten Blick auf den Mount Everest, auch wenn die Spitze gerade noch so über die Wolke lugt.

Die so offensichtliche, ja brutale Konfrontation zweier Kulturen, deren Ausgang schon besiegelt zu sein scheint, beschäftigt mich sehr. Bin ich nur enttäuscht, weil kaum etwas zu spüren ist von dem Lhasa, das Heinrich Harrer in seinem Buch "7 Jahre Tibet" und der gleichnamige Film mit Brad Pitt beschreiben? Ist es nur enttäuschte touristische Erlebnislust? Anachronistische Nostalgie? Oder wirklich ein Mitgefühl, das eine Kultur beweint, die dabei ist zu verderben?

Wir verlassen Lhasa, holpern in unseren Jeeps endlos über Schotterpisten und Steinwüsten, bis wir unser nächstes Ziel erreichen. "Endlich gehen", sagt Wolfgang Nairz. Wir sind in Kartha, vor uns eine lange Karawane von Yaks, die sich unter Pfiffen und aufmunternden Zurufen der Treiber in Bewegung setzen, beladen mit Gepäck, Vorräten, Küchengerät und den Zelten, in denen wir in den nächsten zehn Tagen hausen werden. Zehn Tage wandern wir entlang schäumender Gebirgsbäche, die Ufer bunt geschmückt mit Azaleen und Rhododendren, umrunden dunkle Bergseen und überqueren Bergpässe in schwindelnder Erschöpfung. Zehn Tage, die wir nicht vergessen werden. Die Morgentoilette mit einem Blechnapf warmen Wassers, im Sonnenschein eine blitzschnelle Waschung im eisigen Fluss und die Nächte im Schlafsack auf hartem Boden. Die Momente der Euphorie nach einem langen Aufstieg. Die animierte Stimmung bei den Mahlzeiten an dem langen Tisch im Essenszelt. Das Gefühl der Verbundenheit, ohne einander wirklich zu kennen, das durch das Bewusstsein, dass es eine Verbundenheit auf Zeit ist, nur noch intensiver wird.

Das letzte Lager schlagen wir neben dem Kloster von Rongbuk und nahe dem tibetischen Everest Base Camp auf. Rongbuk (5.030 m) gilt als das höchste Kloster der Welt und wurde als Versorgungsstützpunkt für die Eremiten gegründet, die sich seit Jahrhunderten in den umliegenden Felshöhlen im Angesicht des Everest, dem Sitz der Götter, der Meditation widmen. Zwei Tage lang sind wir im Bannkreis des höchsten Berges der Welt. Sehen zu, wie er sich orange färbt im Sonnenuntergang und im Mondlicht geheimnisvoll glitzert. Trotz guter Akklimatisierung wache ich in der Nacht atemlos auf. In 5.000 Meter Höhe versorgt die Lunge im Schlaf das Blut mit 30 Prozent weniger Sauerstoff. Auf dem Marsch zum Basislager besuche ich eine Einsiedelei, von der aus vor Jahrhunderten ein indischer Lama den tantrischen Buddhismus, der die Sinnlichkeit der Meditation lehrt, nach Tibet brachte.Durch eine enge Luke geht es hinunter in die Felshöhle und in ein Meer aus Kerzenlicht und dem schweren Duft der heißen Yakbutter, in der die Kerzen schwimmen. Ich setze mich auf den glatten Fels, wo schon der indische Lama gesessen war, das flackernde Licht tanzt auf der goldenen Buddha-Statue. Eine seltsame Ruhe ist zu spüren, nichts kann mehr überraschen, alles fügt sich. Ich begreife, dass so viel möglich ist in unserem Leben.Es ist ein sehr glücklicher Moment. Sind es die Endorphine wegen der Anstrengung? Ist es der Sauerstoffmangel? Mein Verstand sagt mir, halt ihn fest, diesen Moment. Bewahre ihn in deinem Herzen. Vergiss ihn nicht, wenn die Welle deines Alltäglichen wieder über dich hinwegspült. Denn deshalb bist du doch hergekommen ...

Wer sich auf diese Reise begibt, findet Kultur und Abenteuer. Vielleicht auch Meditation. Sicher aber vereint die Reisegefährten die Sehnsucht nach den Bergen – hier unter der Leitung von Wolfgang Nairz, dem ersten Österreicher, der den Mount Everest bestieg

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Der Aufstieg zum Rongbuk-Kloster verläuft abseits der Zivilisation, zelten gehört dazu

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