Heimliche Lust

Heimliche Lust
Sexsucht als Ausrede für Seitenspringer oder ernstzunehmendes psychisches Leiden? Wenn die Gier nach Sex zur Qual wird und das ständige Verlangen einen beherrscht.

Als Jack Nicholson noch ein „Sexteufel“ war, wie er sich selbst einmal bezeichnete, hatte er bis zu neun Mal Sex in einer Nacht. Das war ihm selbst zu viel. Also checkte er in der Sexklinik ein. Golfprofi Tiger Woods begab sich medienwirksam in Behandlung, nachdem seine zahlreichen Sex-Eskapaden aufgeflogen waren. Seine Therapie gegen „Orgasmussucht“: Yoga, Meditation, Einzelgespräche und Spielverbot mit seinem kleinen Tiger. Es gibt noch mehr prominente Don Juans, die ihr sexuelles Verlangen nicht im Griff zu haben scheinen: Jesse James, Charlie Sheen oder Bunga-Bunga-Macho Berlusconi. Letzterem empfahlen gute Freunde, sich behandeln zu lassen. Gegen Sexsucht, auch Hypersexualität genannt.

Hypersexuell, süchtig nach Sex – ist das nicht jeder Mensch irgendwann im Laufe des Lebens? Wenn er seinen Körper neu entdeckt oder den Menschen, nach dem er sich schon immer gesehnt hat? So wie wir ja auch süchtig sind nach der Liebe, nach schönen Momenten, einem guten Essen, Schokolade ... Ein Anruf bei Universitätsprofessorin Gabriele Fischer an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Wien soll Klarheit bringen, ist deren Schwerpunkt doch die Suchtforschung und -therapie. Sie sagt: „Es gibt keine Sexsucht, das ist ein Modebegriff, der gerne verwendet wird, auch als Rechtfertigung für Untreue.“ Schließlich könne man die Lust an Promiskuität, dem Sex mit vielen unterschiedlichen Partnern, nicht als krankhaft bezeichnen wie etwa die Alkoholsucht oder Spielsucht. „Vielmehr ist dieses Verhalten Persönlichkeitsstörungen zuzuordnen, was durchaus auch behandlungsbedürftig Recherchen im Internet ergeben: „Sexsüchtige“, wie sie sich oft selbst nennen, outen sich in Internetforen wie www.onlinesucht.de oder erhalten Hilfsangebote bei www.nacktetatsachen.at. Zudem findet man Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und Betroffene, die ihren Leidensweg auführlich schildern. Etwa so: Martin, 22: „Ich masturbiere zu Internetpornografie. (...) Ich habe mich jetzt endlich zum Handeln entschlossen, ich muss etwas tun, da ich unregelmäßig Erektionsprobleme beim Sex mit meiner Freundin habe. Das kann nur mit diesem exzessiven Onanieren und dem harten Pornokonsum zusammenhängen.“ Oder so: Gregor, 48 Jahre: „Mir war es auf eine Art immer unverständlich, warum ich dem Drang nach Pornos nicht widerstehen konnte, obwohl ich von meiner Einstellung her Pornos ablehnte.“ Martin und Gregor stehen mit ihren Problemen nicht alleine da.

Laut Studien gibt es drei bis sechs Prozent „Sexsüchtige“. Die einen halten die Zahlen für übertrieben, andere sehen die Dunkelziffer weit höher, betroffen sind vorwiegend Männer. Zu viel Sex? Das geht doch gar nicht, schon gar nicht bei einem richtigen Kerl. Doch meist sind es tatsächlich Männer, die professionelle Hilfe brauchen, weil sie nichts anderes mehr denken, handeln und fühlen können. Und durch ihr zwanghaftes Verhalten ihre Existenz gefährden – ihre Beziehung, ihren Job, ihren Lebenssinn.

Vorwiegend wegen exzessiver Masturbation und maßlosem Pornokonsum, was letztendlich nicht für sexuelle Erfüllung sorgt, sondern für Scham- und Schuldgefühle. Typisch ist die Jagd nach dem nächsten Kick, sie bestimmt den Mittelpunkt des Alltags. Für den einen kann das der nächste schnelle Sex im Besenkammerl oder Bordell sein, für den anderen die rauschhafte Suche nach noch härteren Pornobildern aus dem Internet oder Telefonsex, bis das Bankkonto leer ist. Der viel beachtete Film „Shame“ (2012) mit Michael Fassbender zeigt anschaulich die Verlorenheit eines Sexbesessenen. Der attraktive Brandon hat ständig Sex mit wechselnden Frauen und Männern, onaniert, wann immer es geht, und holt sich den Kick in Internet-Sexforen. Statt Lust und Leidenschaft oder Nähe dominieren Einsamkeit, Kälte und das Unvermögen, eine Bindung einzugehen. „Sexsucht ist kein Modetrend“, sagt Christina Raviola, Sexualpsychotherapeutin und Lehrbeauftragte für Psychosomatik und Sexualwissenschaft, „sondern ein ernstzunehmendes Leiden, das im Verborgenen stattfindet.“ Suchtexpertin Gabriele Fischer wehrt sich zwar gegen den Begriff „Sucht“, aber ein wesentliches Problem sei es, wenn Sexualität nur noch in Isolation stattfindet. „Etwa wenn Arbeitslosigkeit und Einsamkeit hinzukommen, oft geht dies dann auch mit Drogenkonsum wie Alkohol oder Kokain einher.“ „Gibt es Sexsucht?“ wird auch im Fachmagazin „Psychotherapie im Dialog – Sexuelle Störungen“ (Thieme Verlag) gefragt. Für betroffene Menschen, Forscher und behandelnde Psychiater und Psychologen eine bekannte Diskussion. Denn eines ist klar: Was für den einen Menschen normal ist, kann dem anderen maßlos und gefährlich erscheinen. Moral- und Wertvorstellungen spielen dabei eine große Rolle. Wer Schuldgefühle entwickelt, kann keine Erfüllung finden, sondern wird eher von Unzufriedenheit und Selbstwertproblemen bis hin zu Selbsthass getrieben. Christina Raviola, die auch Leiterin der Beratungsstelle für Sexualstörungen und Partnerschaftskonflikte ist, rät: „Für den, der Hilfe braucht, ist Dr. Google nicht die erste Wahl, um aus dem Dilemma herauszufinden, sondern er braucht Klinische Psychologen und Psychiater.“

Hilfe für Betroffene:
Sexualberatungsstelle. 1030 Wien, Obere Bahngasse 4-8/Stiege 3/ Top 13
Sprechstunden: jeden 2. und 3. Mittwoch von 17.00 - 21.00 Uhr
Beratungsstelle@institut-sexualpsychologie.at
www.institut-sexualpsychologie.at

Frau Dr. Raviola, wie viel Sex ist zu viel? Diese Frage lässt sich so nicht beantworten. Aber wenn das gesamte Denken, Fühlen und Handeln auf Sex ausgerichtet ist, weder Beziehung, Freunde oder Familie mehr Platz im Leben haben, läuft etwas falsch. Wer die eigene Sexualität zudem als exzessiv und zwanghaft empfindet und nicht als erfüllend, gerät in eine einengende Spirale, in der die Jagd nach dem nächsten Kick bestimmend ist.

Gibt es Menschen, die mehr gefährdet sind als andere? Hier spielt das Selbswertgefühl eine große Rolle, aber auch die Beziehungsfähigkeit. Sex kann Probleme wie Einsamkeit, Leere, Angst, Unsicherheit oder Schuldgefühle nicht lösen. Vor allem Männer neigen dazu, Sex als psychisches Beruhigungsmittel einzusetzen.

Ist nicht die Lustlosigkeit ein präsenteres Thema in Ihrer Praxis? Ja, das stimmt, über Lustlosigkeit klagen wesentlich mehr Menschen, aber Sexsucht ist auch ein Thema, das zunehmend belastet und auch angesprochen wird.

Woher weiß man selbst bzw. der Partner, die Familie, ob Sexsucht besteht? Das Leiden findet oft heimlich statt und wird von starken Schuld- und Schamgefühlen begleitet. Höchstens Freunde werden eingeweiht, evt. wird sogar damit geprahlt, obwohl es einen quält.

Wann braucht man professionelle Hilfe? Nur wenn es einen Leidensdruck gibt. Wer keinen hat, braucht auch keine Behandlung.

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