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Kinder außer Kontrolle

Eltern mit schwierigen Kindern geraten zunehmend unter Druck. Vor allem in der Schule und im sozialen Umfeld. Einem Kind, das nicht der Norm entspricht, wird deshalb oft zu leichtfertig eine Aufmerksamkeitsstörung zugeschrieben. Und wirklich von ADHS betroffene Familien begegnen dem Unverständnis anderer. Eine Reportage über das Leben im Ausnahmezustand.

von Annemarie Josef

09/03/2015, 12:16 PM

Wollen Sie sich setzen?“, fragt Florian und deutet Richtung Esszimmertisch. Er wohnt gemeinsam mit seinen Eltern, zwei Brüdern, einem Hund und einer Katze in einer Erdgeschoßwohnung am Wiener Stadtrand. Im Garten steht ein Trampolin. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Philipp plappert sofort aufgeweckt und fröhlich drauflos. Lukas, mit zehn der Jüngste der drei Geschwister, ist zunächst gar nicht zu sehen, sitzt vor dem Computer, verdeckt von der Rückenlehne des Sessels. Er wird später zu uns stoßen, versuchen ein Gespräch zu beginnen, ist aber viel zu aufgeregt dafür und zieht sich wieder zurück.

Florian, Philipp und Lukas. Bei allen wurde im AKH Wien beziehungsweise der Sigmund-Freud-PrivatUniversität Wien ein Aufmerksamkeitsdefizit(hyperaktivitäts)syndrom, kurz AD(H)S, diagnostiziert. In unterschiedlichem Ausmaß – entweder begleitet von epileptischen Anfällen beim Jüngsten, autistischen Zügen oder Hyperaktivität. Die Geschwister bekommen das Medikament Methylphenidat, besser bekannt als Ritalin. Es soll ihnen helfen, den Alltag zu bewältigen, sich zu konzentrieren, am sozialen Leben teilnehmen zu können. Zuhause, aber vor allem in der Schule.

Florian ist hyperaktiv. Das sind jene Kinder, die in der Schule nicht still sitzen können, rausplappern, nicht warten können und alle nerven. „Außerdem ist er ein Schlaumeier und Gerechtigkeit ist ihm extrem wichtig“, sagt die Mutter. Was er mag? Parkours-Training. Eine Sportart, für die man Körperbeherrschung braucht – etwa wenn er über Mauern klettert, springt, läuft.

Was er nicht mag: Rugby. Er würde jedes Foul persönlich nehmen und ausrasten. Könnte in seiner veränderten Wahrnehmung nicht erkennen, dass das zum Spiel dazu gehört.

Interview

freizeit: Wie erkennen Eltern, ob ihre Kinder eine Aufmerksamkeitsstörung haben?

Peter Voitl: Ich denke, dass Störungen der Aufmerksamkeit und auch Hyperaktivität überdiagnostiziert werden. Die Wunschvorstellung vieler Eltern ist es, einfache Lösungen für komplexe Probleme zu bekommen, sodass das Medikament Ritalin zu oft und zu schnell verschrieben wird. Allein in Deutschland gab es innerhalb von 13 Jahren einen Anstieg der Verordnungen um mehr als 3.000 Prozent. Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern sind jedoch nicht so einfach zuzuordnen und bedürfen einer exakten Abklärung.

Was empfehlen Sie Eltern, die wissen wollen, ob ihr Kind ADHS hat?

Auf gar keinen Fall, sich auf standardisierte Fragebögen zu verlassen. Diese Diagnostik ist komplex und sollte nur von darauf spezialisierten Fachleuten durchgeführt werden.

Und wenn die Diagnose dann doch ADHS lautet, sollte man diese dann ernst nehmen?

Ja natürlich, dies ist bei etwa 4 bis 7Prozent der Kinder und Jugendlichen tatsächlich der Fall; bei Buben häufiger als bei Mädchen. In diesen Fällen kann auch ein Medikament wie Ritalin nützlich sein. Allerdings nur in Verbindung mit weiterer therapeutischer Unterstützung; wichtig sind hier regelmäßige psychologische, psychotherapeutische und medizinische Maßnahmen. Die Symptome können sich zurückentwickeln und verändern.

Laut Studien kann ADHS in der Familie genetisch weitervererbt werden ...

Das heißt nicht, dass die Symptome auch auftreten müssen. In Studien wurde auch gezeigt, dass drei Stunden Fernsehkonsum die Konzentration und Wahrnehmung eines Kindes genauso beeinträchtigt, wie man es einem Kind mit ADHS zuschreibt. www.kinderarzt.at

Auch Sophie, die siebenjährige Tochter von Stefan H., 34, kennt Ausraster. Mit Sophie unterwegs zu sein, heißt die Antennen immer in Alarmbereitschaft zu haben. „Früher haben wir Sophie oft unrecht getan, waren böse auf sie, haben geschimpft und sie zurechtgewiesen“, sagt Stefan H. Was soll man anderen Eltern sagen, wenn die eigene Tochter deren Kinder beißt? Was den befreundeten Familien, wenn sie mit ihren Kindern zu Besuch sind und das eigene ist laut und unberechenbar? Und was soll man der Tochter sagen, wenn sie traurig ist? Wieder nicht zu einem Kindergeburtstag eingeladen wurde, immer noch keine Freundin hat, die bei ihr zuhause ein und ausgeht? „Meine Frau leidet am meisten“, sagt Stefan H. „Einerseits weil sie unsere Tochter aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmungen nicht verstehen kann und andererseits mit dem Unverständnis anderer zu kämpfen hat.“

Auch Oma und Opa sprachen aus, was Eltern von ADHS-Kindern oft hören: „Euer Kind ist nicht erzogen!“ Das schmerzt. „Nur wer in einer Familie lebt, in der es ADHS gibt, weiß, wie sich so ein Leben anfühlt“, sagt Stefan H. Darum sei es gut zu wissen, was man hat.

Nicht als Ausrede, sondern damit man damit arbeiten kann. Nachdem die Diagnose bei seiner Tochter Sophie klar war, hat auch er sich testen lassen. „Sie war wie ein Spiegel meiner Kindheit. Ich habe oft gehört: ,Du bist dumm, faul und wirst später auf der Straße landen’“.

Inzwischen haben auch die permanente Müdigkeit, die innere Unruhe und Reizbarkeit von Stefan H. einen Namen: ADHS. Nun weiß er, was mit ihm all die Jahre nicht gestimmt hat. Er musste oft in seinem Leben schauspielern, um soziale Defizite auszugleichen. „Das lernt man mit der Zeit, es gibt ja auch viele Schauspieler mit ADHS.“ Stefan H. versucht jetzt für sich einen anderen Weg: Gruppentherapie, den Umgang mit Wut lernen, versuchen, negative Emotionen ins Positive zu kehren, sich bewusst zu machen, dass er einige Dinge sehr gut kann. Sehr kreativ ist, eine Gabe hat, Lösungen zu finden. Für den Software-Entwickler genau das, was er braucht. Aber es fehlt ihm auch etwas: Empathie zum Beispiel. „Das eigene Leid, die eigenen Kränkungen haben bei mir alles bestimmt. Aber ich erkannte nie, wenn es anderen nicht gut ging. Ich weiß, dass ich viele emotionale Verletzungen bei Menschen, die ich liebe, nicht mehr gut machen kann.“

Vom positiven Umgang mit ADHS-Kindern. Von Kiddy- und Familiencoach Gerhard Spitzer

Alltag entschleunigen. Ist Ihre Familie ständig unterwegs, brauchen Sie immer Programm? Sorgen Sie lieber dafür, dass Ihre Kinder auch zur Ruhe kommen, Zeit für sich haben und einen strukturierten Alltag. Alle Kinder brauchen das. Eines mit ADHS ganz besonders.

Feedback geben. Schärfen Sie täglich Ihre positive Wahrnehmung für das Kind: Was hat es gut gemacht, welcher Moment mit ihm war besonders schön? Sagen Sie es Ihrem Kind, aber nur, wenn Sie es wirklich so meinen.
Potenzial erkennen. Erkennen und fördern Sie die Potenziale von ADHS. So ein Kind kann sehr unterhaltend und lebendig sein. Helfen Sie dem Kind, etwas zu finden, das ihm Spaß macht und was es besonders gut kann.
Bewegungsdrang nicht ausbremsen. Das Kind wippt mit dem Fuß, klopft auf den Tisch, kann nicht still sitzen? Es soll damit aufhören? Tun Sie etwas für IHRE Gelassenheit. Vielleicht fordern Sie das Kind stattdessen sogar einmal auf, noch lauter zu klopfen, mehr zu wippen und umherzugehen. So fühlt es sich wahr- und ernst genommen und verliert obendrein sicher rascher das Interesse daran.
Misserfolge nicht verstärken. Kinder mit ADHS sammeln täglich kleine Misserfolge. Streichen Sie Sätze wie „Du könntest viel mehr, wenn du nur wolltest“ aus Ihrem Vokabular. Bei diesen Kindern liegt die Latte sowieso derart hoch, dass so ein Satz den Leidensdruck nur noch
mehr verstärkt.

Buchtipps: „Warum zappelt Philipp?“ (Überreuter, 19,95 €) und Family-Guide „ADS und ADHS“ (Compact), Gerhard Spitzer www.kiddycoach.com

Auch der dreizehnjährige Florian kennt das das Gefühl, nicht aus seiner Haut zu können. Wenn andere Kinder ihn ärgern, ihn provozieren. Ein Mal ist er so ausgetickt, dass er ein Mädchen getreten hat. Wie soll man das erklären? Der Lehrerin, den Schulkameraden? Er trat vor die Klasse und sagte: „Es tut mir leid, was ich getan habe. Ich wollte euch nicht erschrecken. Aber bitte provoziert mich nicht. Wenn man mich provoziert, komme ich an einen Punkt, wo ich nicht mehr weiß, was ich tue.“

Florians Mutter ist stolz, dass er den Mut hatte, sich vor die Klasse zu stellen.

Aber was wird das neue Schuljahr bringen? Wird es wieder Probleme geben? Mit Ritalin ist der soziale Umgang leichter geworden. Die Medikamentengabe ging einher mit Ergo- und Psychotherapie. Aber die Mutter weiß, dass das nicht reicht. „Ich könnte Unterstützung brauchen“, sagt sie. ADHS-Elterntraining, Psychotherapie, Jugendarbeit, es gäbe viele Möglichkeiten. Das Geld dafür haben die Eltern nicht. Kassenplätze für Behandlungen sind rar oder gar nicht vorhanden, die Wartezeiten monatelang. Dass sie sich keinen Urlaub leisten können, stört Florians Mutter Renée N. nicht. Aber dass sie die notwendigen Therapieplätze nicht bezahlen kann, das schon.

Medikamente können bei ADHS keine Wunder vollbringen. Sie können bei richtiger Diagnose und Therapie Kindern helfen, aber nicht alle Probleme lösen, geht es doch auch um das soziale Verhalten. In der Gesellschaft, in der Schule. Kinder müssen sich anpassen. Wer will schon Außenseiter sein?

Stefan H., Sophies Vater, nimmt seit einem Jahr selbst Ritalin, was ihm das Leben einerseits erleichtert, andererseits einen Gewichtsverlust von 13 Kilo beschert hat. „Es war auch eine Art Selbsttest“, sagt er. „Kann das für mein Kind gut sein?“

Durch die Diagnose ADHS sind Eltern schnell mit der Frage konfrontiert, was zu tun ist. Dabei entstehen Unsicherheiten, da es viele Behandlungsmöglichkeiten gibt – von der Ernährungsumstellung über Omega-3-Kapseln bis zu Ritalin. Was kann helfen? Bloß kein Ritalin für Sophie, sagt der Vater. „Sie wird homöopathisch behandelt und hat gute Fortschritte mit Ergoklettern gemacht.“ Davor war es unmöglich, dem Kind Radfahren beizubringen, da es weder räumliche Vorstellungskraft noch Körperspannung oder Gleichgewichtssinn besaß.

Auch die Eltern von Florian wollten kein Ritalin für ihren Sohn, als die Ärzte es ihnen empfahlen. Renée N.: „Wir hatten Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. Es fühlte sich an, als hätten wir als Eltern versagt und der einzige Weg ist unserem Kind eine Droge zu geben.“ Eine Kinderärztin meinte, man könne es mit einer Mini-Dosis probieren. Und dann erlebte die Mutter, dass der Sohn zum ersten Mal konzentriert Hausübungen machte, ohne sich ablenken zu lassen, und dass er seine Umgebung wahrnahm, bei sich war. „Mit Ritalin kann Florian ins Gymnasium, ohne schafft er nur die Sonderschule. Das ist der Unterschied“, erklärt die Mutter. „Selbst der Alltag ist um vieles einfacher geworden, da die Kinder aufmerksamer, aufnahmefähiger und nicht so leicht ablenkbar sind, solange das Ritalin wirkt. Sie konnten manche alltägliche Dinge erst dadurch erlernen.“

Inzwischen hat der 13-jährige Florian die Dosierung selbst zurückgefahren: „Ich nehme das nur noch, wenn ich einen schlechten Tag habe“, sagt er.

Er weiß bereits seit mehr als der Hälfte seines Lebens, wie es sich anfühlt, nicht der Norm zu entsprechen. Aber er ist auch ein sehr intelligenter Bub, wissbegierig, verschlingt Sach- und Wissensbücher. „Er ist ein Schüler, wie es sich jeder Lehrer nur wünschen kann, weil er mit seinem Wissenshunger auch fordert“, sagte eine Lehrerin. Dennoch kann es wieder passieren, dass die Mutter ihn aus der Schule abholen muss. Er fehlt dann manchmal ein bis zwei Tage. Von den Noten her kann er sich das locker leisten, der Lernstoff ist schnell nachgeholt. Trotzdem ist der Stress immer vor der Zeugnisverteilung und auch vor Weihnachten groß. Zu viele Unsicherheiten gibt es dann.

So eine Unsicherheit kennt er nicht, wenn er auf seinem Trampolin gefühlte 30 Salti springt. Damit der Fotograf ein gutes Foto machen kann. „Es ist wichtig, offen über ADHS zu sprechen und damit umzugehen“, sagt seine Mutter. Andere sollen erfahren, wie das ist. Obwohl sie auch Angst davor hat, dass ihre Kinder abgestempelt werden, sie unreflektierte Vorwürfe hört.

„Man landet schnell in der Schublade“, sagt auch Stefan H., der dennoch bereit ist, hier sein Gesicht zu zeigen, weil ihm das Thema wichtig ist. „Es geht mir um meine Tochter.“

WISSENSWERTES ÜBER ADHS

Was ist ADHS? Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ist eine psychische Störung wie etwa Depressionen. Im Wesentlichen haben Kinder mit ADHS Probleme mit der Selbststeuerung und Selbstkontrolle. Das beeinträchtigt ihre Konzentration und Aufmerksamkeit, sorgt für impulsives und unüberlegtes Handeln sowie körperliche Unruhe und einen ausgeprägten Bewegungsdrang. Da jeder Mensch mehr oder weniger aufmerksam, impulsiv oder hyperaktiv sein kann, ist die Grenze zwischen Normalität und Störung nur schwer zu ziehen. Ein Merkmal scheint zu sein, dass die Symptome nicht nur in der Schule oder im Kindergarten auftreten, sondern an allen Schauplätzen des Kinderlebens - also auch auf dem Spielplatz, zuhause, bie Freunden.

Die Gehirnforschung konnte zeigen, dass bei ADHS eine Beeinträchtigung im Frontallappen des Gehirns besteht. Das hängt mit einer Störung bei der Zufuhr des Botenstoffs Dopamin zusammen. Was im Bereich des Frontalhirns die Kommunikation der Nervenzellen beeinträchtigt und letztlich dazu führt, dass sämtliche Reize, Informationen und Eindrücke nicht in wichtig und unwichtig eingeteilt werden können. Fällt nämlich die Steuerungsfunktion, die im Frontallappen sitzt weg, ist es zum Beispiel kaum möglich, konzentriert zuzuhören oder einen Gedanken zu Ende zu bringen.

ADHS als Modediagnose? Die Diskussion darum, dass ADHS zu schnell und zu leichtfertig diagnostiziert wird, ist nicht neu. Vor allem die immense Zunahme der Verschreibung von Ritalin wird hier kritisiert. Hauptproblem scheint, dass das Störungsbild zwar existiert, aber die Diagnose sehr schwierig ist und vor allem nicht schablonenhaft gestellt werden kann. Nicht jedes schwierige, unkonzentrierte, laute oder hibbelige Kind hat ADHS. Entscheidend scheint die Summe, Dauer und Schwere von Symptomen zu sein und ob diese in unterschiedlichem Kontext auftreten. Nur eine Kombination aus psychiatrischen, medizinischen Untersuchungen von darauf spezialisierten Fachleuten kann Sicherheit bei der Diagnose geben.

Adressen und weitere Informationen zu Diagnose, Therapie, aktuellen Studien, Fachberichten etc. gibt es beim Dachverband der Selbsthilfegruppen für AD(H)S in Österreich, www.adapt.at auch auf facebook

www.adhs.info

www.adhs-anderswelt.de

Netzwerk für Lern-, Schul- und Erziehungsfragen www.kiprax.at

ADHS oder Hochsensibel? Mehr zum Thema: www.zartbesaitet.net

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