Schlagobers-Nachmittage

Der Plauderer der Nation: H. C. begrüßte oft und gern, und fast alle fühlten sich angesprochen
Er war der erste große Star des österreichischen Fernsehens. Heinz Conrads, der am 21. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre. Ein Mann, der Freund und Feind faszinierte.

Als ich ein Kind war, Mitte der Siebzigerjahre, im Wohnzimmer wuchsen Herbstwaldfototapeten, im Gesicht meines Vaters lange Koteletten, auf der Badehaube meiner Mutter dicke Plastikblumen, als ich also ein Kind war: Da bekamen wir jeden Samstagabend Besuch von einem älteren Herren, den konnte ich nicht leiden. Und das war Heinz Conrads. Etwa 20 Jahre später stand ich zusammen mit meiner zukünftigen Ex-Frau und Oliver Baier und dessen damaliger Freundin am Klavier von Heinz Conrads, auf dem ein Bild seines ehemaligen Besitzers Platz genommen hatte und uns gerahmten, strengen Blicks ansah, und wurde von Conrads’ Witwe Erika fotografiert. Und hörte mich sagen, dass ich Heinz Conrads immer ganz wunderbar fand. Erika Conrads war eine unwiderstehlich reizende Gastgeberin, eine vollendete, ein wenig traurige Dame, und ich hätte es nie übers Herz gebracht, in ihrer Anwesenheit etwas anderes zu sagen. Damals, in meiner Kindheit, verliefen die Samstage immer gleich: Am Nachmittag besuchte uns die Omama. Die Omama war praktische Ärztin. Sie hatte keinen Magen, keine Geduld und keinen Führerschein, aber sie hatte einen eigenen Chauffeur und einen japanischen Wagen, was in den Siebzigerjahren als überaus exzentrisch, fast schon als frivol galt. Jeden Samstag brachte die Omama Mehlspeisen aus der Konditorei mit. Dazu gab es Kakao mit Schlagobers, welches meine Mutter vor dem Schlagen zuckerte. Niemals habe ich etwas Besseres getrunken als Kakao mit gezuckertem Schlagobers. Das Besondere an diesen samstäglichen Insulinorgien unter der Herbstwaldtapete waren die Gesprächsthemen. Meine Omama gab die Themen vor: Jimmy Connors oder Björn Borg? Karajan oder Bernstein? Nierenkrebs oder Darmverschluss? Da meine Omama Ärztin war, sprach sie sehr gerne und sehr detailgenau über die Aspekte ihres Berufs. Dass andere diese Themen unangenehm finden könnten, kam ihr nicht in den Sinn. Wir Kinder hörten, Mehlspeisen mampfend, gespitzten Ohres zu. Damals kam uns das ganz normal vor. Später entwickelten meine Schwester und ich als Spätfolge ein herausragendes Talent zur Hypochondrie.

Schlagobers-Nachmittage

Ließ sich gerne anhimmeln: Auch von Seniorenklub-Kellnerin Hilli Reschl und Guggi Löwinger

Es waren wunderbare Samstagnachmittage. Und sie endeten immer abrupt. Zwei Minuten vor 18 Uhr (oder war es 18.30?), brach die Omama das Gespräch ab und schaltete den Schwarzweißfernseher ein, der genau zwei Minuten brauchte, um ein Bild zu zeigen. Von diesem Moment an war Sprechen strengstens untersagt, denn, so sagte die Omama, „jetzt kommt der Heinzi Conrads“. Dann erschien ein Mann mit zementöser Frisur, stählernen Gesichtszügen und kalten Augen auf dem Bildschirm und sagte drei Mal „Gute Abend“ (Damen, Herren, Madln) und einmal „Seawas“ (Buam). Meine Omama fand diesen Spruch ungeheuer witzig. Danach grüßte der Heinzi Conrads die einsamen, alten und kranken Zuschauer, gab Mitgefühl und Zuneigung vor, was ich ihm keine Sekunde glaubte. In weiterer Folge ereignete sich das, was in Wien „Gemütlichkeit“ genannt wird: Gespräche im Plauderton, gestemmte Pointen und verraunzt vorgetragene Wienerlieder. Meine Großmutter konnte den Blick nicht abwenden. Mir war schon als Kind klar, dass dieser Mann über besondere Fähigkeiten verfügen musste, die ich nicht verstand. Meine Großmutter war damals kaum älter, als ich es heute bin, und ich weiß noch, wie ich dachte: Wenn man alt wird – wird man dann einer Art Gehirnwäsche unterzogen und findet anschließend so etwas gut? Für mich war der Heinzi Conrads jener Mann, der unsere schönen Samstagnachmittage so rüde beendete.

20 Jahre später aß ich auf der Terrasse des Heinzi Conrads zu Abend. Er war da schon etwa zehn Jahre tot, seine Witwe schrieb für den KURIER einen Briefwechsel mit dem jungen, frechen Moderator Oliver Baier in Kolumnenform, meine zukünftige Exfrau war die zuständige Redakteurin, und Frau Conrads wollte uns näher kennenlernen. Ich erinnere mich daran, dass Frau Conrads eine unwiderstehlich nette, fast zerbrechlich wirkende, aber dennoch resolute ältere Dame war, ich versuchte alles, um einen guten Eindruck bei ihr zu hinterlassen. Oliver Baier wirkte genervt, was ich heute gut verstehen kann. Ich spielte die Rolle des braven, stets korrekt geschnäuzten, konservativen jungen Mannes. Ich konnte das gut – jedem Menschen das zu erzählen, was er hören wollte. Vielleicht sagte Frau Conrads deshalb, ich erinnere sie ein wenig an ihren verstorbenen Mann. Sie sprach von ihm wie von einem Heiligen: Schwierig sei er gewesen, oft grantig, was aber aufgrund seiner Heiligkeit letztlich irrelevant war. Am 21. Dezember wäre Heinz Conrads 100 Jahre alt geworden. Ja, das darf man sagen – manche Menschen werden 100. (Der so oft zu hörende oder lesende Spruch, jemand „wäre 150 Jahre alt geworden“ oder „wäre 200 geworden“ oder „hätte seinen 500. Geburtstag gefeiert“ ist dagegen strahlender Blödsinn.) Ich weiß heute, dass er vielen, vielen Menschen, darunter meiner Großmutter, große Freude bereitet hat. Für mich dagegen war er immer der Mann, der mit kaltem Blick unsere Schlagobersnachmittage beendet hat, und an dessen Klavier ich einmal fotografiert wurde. Es tut mir leid, aber das ist meine Wahrheit.

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