Prater: Der Rumpfmensch und andere Abnormitäten
Es war die Zeit der Hutschenschleuderer, der Geisterbahn- und Ringelspiel-Fahrer, in der Liselotte Lang ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Sie wurde vor 88 Jahren im Prater geboren, hat immer dort gelebt und gearbeitet. "Es war eine wunderbare Atmosphäre, ganz anders als heute", sagt sie.Der Prater wurde vor fast 1000 Jahren als "Pratum" zum ersten Mal urkundlich erwähnt, doch den "kleinen Leuten" blieb er lange verschlossen, weil er das Jagdrevier des Herrscherhauses war. Erst Kaiser Joseph II. öffnete im April 1766 das sechs Quadratkilometer große Areal für die Wiener, womit es zum Wurstelprater und damit zu einer in der Welt einzigartigen Vergnügungsstätte werden sollte.
Die ersten Sensationen
"Abnorm gebaute Menschen" – Riesen, Zwerge oder Damen ohne Unterleib – das waren die ersten Attraktionen im Prater, die später von technischen Sensationen wie Grottenbahnen, Luftschiffen und Raketen abgelöst wurden. "Der Prater unterschei- det sich dadurch von den meisten anderen Vergnügungsparks der Welt, dass die Betreiber hier sesshaft sind. Anderswo findet man meist fahrende Leute, die von Stadt zu Stadt ziehen", erzählt der 90-jährige Philipp Kolnhofer, dessen Familie ebenfalls schon in vierter Generation zu den Prater-Leuten gehört.
Der Wurstelprater ist nur ein kleiner Teil des gesamten Pratergeländes und erfreute sich gleich nach der Öffnung durch Joseph II. so großen Zulaufs, dass der Kaiser Order gab, das Gelände sonntags erst nach zehn Uhr früh zu besuchen, "da die Dienstleut statt in die Heilige Messe in den Prater" gingen.
Es wär nicht Wien, hätten die Wiener im Prater keine Feste gefeiert und provisorische Schaubuden aufgestellt, die dann einfach stehen blieben. Am 1. Mai 1766 erhielt der Sprachlehrer Johann Damen die Erlaubnis, eine "Hutschen nach niederländischer Art" zu errichten, womit das erste – von Pferden betriebene – Ringelspiel entstand. Die bald eröffneten Kaffeehäuser, Weinbuden und Erfrischungszelte wurden zu Zentren wienerischer Ess- und Trinkgelage, die Musiklokale waren beliebte Rendezvous-Plätze für Kavaliere und Wiener Mädeln, wobei das Eintrittsgeld beim "Fünfkreuzertanz" interessanterweise meist von den weiblichen Gästen entrichtet wurde.Bald zog der Prater auch "allerlei finsteres Volk" an. Als italienische Salamihändler zur Konkurrenz der Praterwirte wurden, verweigerten ihnen die Gastronomen das Betreten ihrer Schanigärten, in denen sie ihre Waren feilboten. Es kam zu Exzessen, sodass die eigentlich zum Salamischneiden mitgeführten Wurstmesser missbräuchlich verwendet wurden. In manchen Fällen endete der Streit tödlich. Andererseits gründete der Triestiner Basilio Calafati das Karussell "Zum großen Chineser", das zu einem Hauptanziehungspunkt wurde.
Der noble Volksprater
1873, im Jahr der Wiener Weltausstellung, wurde der Wurstelprater in den gesitteten Volksprater umgestaltet. "Der Wurstelprater wurde so nobel zugerichtet", meldete das Illustrierte Extrablatt, "dass das Volk sich nicht traute, den neuen Volksprater zu besuchen". Doch bald traute es sich wieder, angelockt auch durch die neue Attraktion Riesenrad (und der Wurstelprater heißt immer noch Wurstelprater). Liselotte Lang begann mit acht Jahren am Ringelspiel zu arbeiten, Philipp Kolnhofer ging mit 13 als "Brezelbub" im familieneigenen Prater-Wirtshaus mit dem Brotkorb von Tisch zu Tisch. Beide haben die schweren 1930er-Jahre miterlebt, als die Betriebe fast stillstanden, weil die Wiener zwar in den Prater kamen, um spazieren zu gehen, aber kein Geld hatten, die Attraktionen zu benützen. Beide erlebten, wie 1938 ein Drittel aller Betriebe "arisiert" wurde. Und beide erlebten, dass ausgerechnet im Krieg das Prater-Geschäft florierte. "Die Soldaten sind am Praterstern angekommen", erzählt Frau Lang, "mussten zuerst zur Entlausung und gingen dann in den Prater. Die jungen Männer waren gerade in dieser Zeit besonders vergnügungssüchtig."
"Alles wieder aufgebaut"
Der Prater wurde im Krieg fast völlig zerstört. "Wir haben alles wieder aufgebaut", sagt Herr Kolnhofer. "Mein Vater kaufte einen Standplatz nach dem anderen, wir hatten Ringelspiele, Geisterbahnen, Elektroautos und als es beim Tobogan einen tödlichen Unfall gab, hat er auch diesen Platz gekauft und darauf ein Autodrom gebaut."
Dass "die Hetz" im Prater sprichwörtlich ist, beweist Goethe, der den Mephisto in "Faust" sagen lässt: "Hier ist’s so lustig wie im Prater."
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