"Ich konnte nicht einmal weinen"

Schulweg Unfall, Marvin Klvana
Marvin, 11, wurde von einem Auto angefahren. Mehr als 300 Unfälle passieren jährlich am Schulweg

Jetzt habe ich keine Sommerferien und fünf Metallstäbe in meinem Bein“, sagt Marvin Klvana und rückt seinen linken Fuß, der von einem schweren Metallgerüst gestützt wird, ein wenig zurecht. Der Elfjährige ist einer von Hunderten Schülern, die jährlich am Schulweg verunglücken. Am Montag wurde er in Wien-Hernals von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Er erlitt zwei Brüche im linken Bein, einer davon ein offener Schienbeinbruch.

„Auch wenn man glaubt, man kann schon gut Auto fahren, kann immer etwas passieren.“Marvin KlvanaUnfallopfer Weil er seinen Bus verpasst hatte, war Marvin an diesem Tag mit dem Tretroller unterwegs. An der Kreuzung zwischen Hernalser Hauptstraße und Lacknergasse blieb er stehen, um ein Auto in die Einbahn einbiegen zu lassen. Erst dann habe er die Straße überquerte. Plötzlich schob aber der Lenker wieder zurück, erzählt Marvin.

"Ich konnte nicht einmal weinen"
Schulweg Unfall, Marvin Klvana

Der Junge wurde zu Boden geschleudert. „Ich frage mich, warum er den Rückspiegel nicht benutzt hat“, sagt Marvin zum KURIER. „Ich hatte so einen Schock, dass ich nicht einmal weinen konnte.“ Für die Mutter war es auch ein Schock: „Er hat mich angerufen und ins Telefon geschrien „Mein Bein!“ – da wusste ich, es stimmt etwas nicht“, erzählt sie.

Fall fürs Gericht

Wie er den Unfall erlebt hat, wird Marvin der Polizei erst erzählen. Er musste nach dem Unfall operiert werden. Daher gab es noch keine Einvernahme. Die Schilderungen des Elfjährigen könnten für die Justiz interessant werden. Denn der Unfalllenker hat sich bei dem Buben nicht entschuldigt. Im Gegenteil, er schilderte den Unfall der Polizei ganz anders: Als er in die Gasse einbiegen wollte, hätte Marvin die Straße überquert und er hätte nicht mehr stehen bleiben können. „Er hat zu mir gesagt, dass ich ihn übersehen hätte“, sagt der Bub. „Dann müsste ich aber am anderen Bein verletzt sein.“

Appell an Autofahrer

Der tapfere Elfährige möchte von seinem Unglück erzählen, damit es anderen Schülern nicht auch so geht. „Auch wenn man glaubt, man kann schon gut Auto fahren, kann immer etwas passieren“, appelliert er an die Erwachsenen. „Aber auch als Fußgänger kann man nie vorsichtig genug sein. “ Drei Monate ist Marvin nun an das Metallgestell gefesselt. Für den Fußball-Stürmer nur schwer zu ertragen.

Marvin ist nur einer von Hunderten Schülern, die jährlich am Weg zur Schule verunglücken. 368 Unfälle wurden 2011 registriert. 397 Kinder im Alter zwischen sechs und 15 Jahren wurden dabei verletzt. Immerhin: Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Schulwegunfälle um fast ein Drittel gesunken.

Die meisten Unfälle am Schulweg ereignen sich übrigens in Wien: 2011 gab es 74 Verletzte. Auf die Einwohnerzahl bezogen ist jedoch der Schulweg in der Steiermark am gefährlichsten. 4,7 von 10.000 Kindern verunglücken hier. Das sicherste Bundesland ist Tirol. Hier verunglückten 2,5 von 10.000 Schülern.

Unfälle, wie jener von Marvin, sind kein Einzelfall. In Kirchberg (Bezirk Braunau) in Oberösterreich wurde erst gestern, Dienstag, ein elfjähriges Mädchen schwer verletzt, weil es vor einem Schulbus über die Fahrbahn gelaufen war und dabei einen Pkw übersehen hatte. Nach einem schweren Zusammenstoß mit einem Auto war Ende Mai in Wien sogar ein Bub gestorben. Der 13-Jährige lief zwischen zwei parkenden Autos auf die Straße.

Bushaltestellen und parkende Autos sind zwei häufige Gefahrenquellen, weiß Verkehrsexpertin Sabine Kaulich. Viele Unfälle passieren nämlich nicht nur, weil Kinder schnell unterwegs und in Gruppen unaufmerksam sind, sondern auch, weil sie Gefahren nicht erkennen. „Erst im Alter von zehn bis 15 Jahren können sie Verkehrssituationen richtig einschätzen“, sagt die Leiterin der Landesstelle Wien des Kuratoriums für Verkehrssicherheit.

Unsichtbarer Schutzweg

In Bereichen, wo Kinder unterwegs sind, sollte man deshalb sehr defensiv fahren. „Für Kinder gilt der unsichtbare Schutzweg“, sagt die Expertin. Sie sind vom Vertrauensgrundsatz ausgenommen. Das heißt: andere Verkehrsteilnehmer dürfen sich nicht darauf verlassen, dass sich ein Kind richtig verhält. Trotzdem verunglückten im letzten Jahr acht Kinder im Alter bis zu 14 Jahren tödlich, drei davon als Fußgänger.

„Die größten Probleme sind die schlechte Anhaltebereitschaft von Autofahrern vor Schutzwegen und das Chaos vor Schulen, das von Eltern selbst verursacht wird“, sagt Kaulich und appelliert an diese, ihre Kinder nicht direkt vor die Schule zu führen. „Die vielen Autos behindern die Sicht für jene, die zu Fuß oder mit dem Bus kommen.“

Zu wenige Eltern, nur zwei Drittel, üben außerdem mit ihren Kindern den Schulweg. Da ist darauf zu achten, dass der kürzeste Weg nicht immer der sicherste ist. „Unübersichtliche Stellen sollten gemieden werden. Wenn kein Schutzweg vorhanden ist, sollte man einen längeren Weg bis zum nächsten in Kauf nehmen“, sagt Kaulich. Korrektes Verhalten sollte man übrigens auch vorleben, wenn man sein Kind in die Schule begleitet. „Die Vorbildwirkung ist wichtig“, weiß Kaulich.

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