Krisenzentrum: "Wir schicken sicher keine Kinder weg"
Warum bist du hier gelandet? Wann wirst du entlassen? Darfst du wieder zu deiner Familie zurück? Es sind genau diese Fragen, die sich die Kinder hier im Krisenzentrum gegenseitig stellen, wenn sie sich kennenlernen. Als wäre es das Normalste der Welt anzunehmen, dass man vielleicht nicht wieder zur eigenen Mutter darf. Kinder, die sich bis vor kurzem noch nie über den Weg gelaufen sind, müssen sich hier nun alles teilen.
Das frisch renovierte Altbauhaus steht in der Wasnergasse im 20. Wiener Gemeindebezirk. Die Räume sind hoch, die Wände frisch und blendend weiß gestrichen, die Sonne scheint herein. „Sozialpädagogische Einrichtung“ steht draußen am Eingangstor. Im ersten Stock befinden sich die Büros der Mitarbeiter, im zweiten Stock das Krisenzentrum, im dritten Stock liegen die zwei Wohngemeinschaften mit je acht Schlafplätzen für Kinder, die dauerhaft fremduntergebracht werden müssen.
Die meisten sind jetzt gerade in der Schule oder im Kindergarten. Ein langer Gang führt zu den Zimmern. Hauptsächlich Einzelzimmer. Ein zehnjähriger Bub blinzelt schüchtern aus einer der Türen heraus. Das Namensschild verrät, dass er Daniel heißt. Daniel hat eine so genannte „Biographische Landkarte“ mit einer der Betreuerinnen gezeichnet. Diese Karte ist eines der vielen Hilfsinstrumentarien, um eine Einschätzung des Umfeldes und der Beziehungen des Kindes zu gewinnen. „Papa Georg“ ist rot umrahmt. Rot bedeutet „nicht so wichtig oder seltener Kontakt“. Vor zwei Jahren hat er ihn das letzte Mal gesehen. Die Karte hängt an der Innenseite von Daniels Zimmertüre.
Gerade wegen der furchtbaren Umstände, die die Kinder hier hergeführt haben, wird von den Mitarbeitern im Haus alles gegeben, um den Aufenthalt hier so schön wie möglich zu gestalten. Worum sich deren Eltern nicht gekümmert haben, das übernehmen jetzt Michael Körber und sein Team. Er ist der sozialpädagogische Leiter des Krisenzentrums. Groß, schlank, sportlich. Mit Gel aufgestelltes Haar. Heute im weißen Polo und Jeans gekleidet. Immer im leichten Laufschritt unterwegs. Doch so hektisch und chaotisch sein Job manchmal auch ist, wenn Körber über seine Kinder spricht, wird er ganz ruhig und ernst.
Auch während dem Gespräch mit Kurier.at wird Körber gerufen. Er springt auf, entschuldigt sich, stürmt aus dem Raum. „Ein Geschwisterpaar, wir brauchen noch ein Bett“, sagt er als er fünf Minuten später wieder zurückkommt. Eigentlich ist das Krisenzentrum voll belegt. „Wir schicken aber sicher keine Kinder weg.“
Wie kommt ein Kind ins Krisenzentrum?
Wenn Sozialarbeiter von einer vermuteten Gefährdung eines Kindes erfahren, müssen sie zur Sicherung des Kindeswohles aktiv werden. 2015 war das in Wien 13.532 Mal der Fall. Die meisten Meldungen kamen von Polizei oder Schule und Kindergarten. Oder die Sozialarbeiter entschieden dies in Eigenwahrnehmung. Anschließend folgt eine Gefährdungsabklärung. Sollte der Schutz des Kindes während dieser Abklärung in der Familie nicht ausreichend gewährleistet sein, kann eine vorrübergehende Aufnahme in einem Krisenzentrum (Kinder ab drei Jahre) oder bei Krisenpflegeeltern (Babys und Kleinkinder bis drei Jahre) erfolgen.
Damals und heute
„Wir brauchen mehr Pflegeeltern und Krisenpflegeltern“, sagt Antonio Strauß. Sein Büro liegt im Stock unter dem Krisenzentrum. Ledercouch, moderne Einrichtung, in der Ecke lehnt eine Gitarre. Strauß, weißes Haar, braun gebrannt, Tommy Hilfiger-Hemd. Er spricht sehr langsam und bedacht, wenn man ihn nach seinem Job hier fragt. Vier Jahrzehnte arbeitet er bereits in der Branche. Heute ist er Regionsleiter für den 20. und 21. Bezirk. „Ein wichtiger Teil meines Jobs ist es, die geeigneten Plätze für die Kinder zu finden.“
Seine Karriere begann in einem Kinderheim, das er geleitet hat. „Damals gab es noch riesige Schlafsäle, die Zustände kann man überhaupt nicht mehr vergleichen, zum Glück“, sagt Strauß. Denn heute, da stünde das Bedürfnis des Kindes im Zentrum. Einzelzimmer, Rückzugsorte, angepasste Therapien, Kinderrechte. „In Österreich hat sich wirklich sehr viel getan“, sagt Strauß, der auch Psychotherapeut ist.
Fragt man ihn, ob es denn genügend Platz hier in der Wasnergasse für die Kinder gibt, blickt er seinen Kollegen Körber an. „Wissen Sie, ich habe da eine geteilte Meinung“, sagt Strauß. „Ich bin wirklich dafür, die ambulanten Hilfestellungen zu verbessern, den Familien direkt zu helfen.“ Demnach sollte es vermieden werden, das Kind aus der Familie zu holen, da es ja Teil der Familie ist. „Man kann einem System nicht helfen, wenn man es zerreißt. Das Kind ist Teil des Systems Familie“, erklärt Strauß. Aber selbstverständlich gebe es Situationen, wo die Fremdunterbringung die beste Möglichkeit sei, bei sexueller Gewalt etwa.
Das wichtigste in ihren Jobs sei Empathie, Reflexion und Kreativität, sagen die beiden. „Ehemalige Bewohner des Krisenzentrums haben uns Feedback gegeben“, erzählt Strauß. Das würde er sehr ernst nehmen. Demnach sei es das Wichtigste für die Kinder, zu erfahren, wie es mit ihnen weitergeht. Wo komme ich hin? Und wann wird das passieren? „Heute machen wir es so, dass wir die Wohngemeinschaft vorher im Internet suchen, dann sehen wir sie uns mit dem Kind gemeinsam an. Es kann sich also langsam daran gewöhnen“, sagt Körber. Und im absoluten Idealfall wären die Eltern sogar bei der Besichtigung dabei. Aber Strauß‘ und Körbers Gesichter zeigen, dass dies nicht allzu oft vorkommt.
Ein wichtiger Termin
Die zwei Männer führen stolz durch die Räumlichkeiten in der Wasnergasse. Gerade ist Dienstübergabe im Krisenzentrum, die Sozialpädagogen besprechen die „Fälle“ und die Tagestermine der Kinder. Auch Strauß muss jetzt zu einem Termin. „Ein sehr wichtiges Treffen“, sagt er. Er besucht jetzt einen kleinen Jungen, der drei Monate hier gelebt hat. In dieser Zeit ist die Mutter verschwunden, sonst war keiner mehr aus der Familie des Jungen da. Strauß hat den Kleinen bei einer Kinderdorf-Familie untergebracht. „Und heute besuche ich ihn dort. Ich will wissen, wie es ihm geht.“
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