Kopfschuss-Prozess: Angeklagter womöglich nicht der Schütze

Der 29-Jährige wurde zu 20 Monaten bedingter Haft verurteilt.
Am Gewand des Angeklagten, das dieser am Tatort trug, konnten keine Schmauchspuren gefunden wurden.

Am kommenden Montag muss sich am Landesgericht ein 28-jähriger Mann wegen Mordes vor Geschworenen verantworten, weil er am 16. April 2017 in der Jägerstraße in Wien-Brigittennau einen Bekannten per Kopfschuss vorsätzlich getötet haben soll. Wenige Tage vor der Verhandlung hat das Verfahren einen ungeahnten Spin bekommen. Beim Angeklagten handelt es sich möglicherweise gar nicht um den Schützen.

Das legt zumindest das Gutachten des ballistischen Sachverständigen Ingo Wieser nahe, das der vorsitzende Richter Georg Olschak einholen hat lassen. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Ermittlungsverfahren auf die Beiziehung eines Schießsachverständigen verzichtet - ein speziell im gegenständlichen Mordverfahren kaum nachvollziehbarer Umstand, zumal sich der Angeklagte nach seiner Festnahme mit einem Schießunfall verantwortet hat. Danach machte er von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch und tätigte keine Angaben mehr.

Intimes Verhältnis

Wiesers Expertise zufolge kann die Darstellung des 28-jährigen Kosovaren nicht stimmen. Dieser hatte gegenüber der Polizei behauptet, er sei vom Getöteten - einem 26 Jahre alten Mann mit bosnischen Wurzeln, der sich in einem kriminellen Umfeld bewegt haben soll - im Zuge einer Aussprache um eine Frau, mit der angeblich beide ein intimes Verhältnis hatten, angegriffen worden und habe diesen abwehren wollen, indem er ihm seine Pistole Marke Tokarev auf den Kopf schlug. Dabei habe sich unabsichtlich ein Schuss gelöst, weil ihm sein Kontrahent die Hand wegstieß. Das Projektil drang dem 26-Jährigen durch den angehobenen rechten Oberarm in den Kopf und trat an der linken Scheitelhöhle wieder aus.

Für Wieser, der die Tatwaffe eingehend untersucht und auch Falltests durchgeführt hat, ist eine Schussauslösung durch einen Schlag "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen", wie es in seinem Gutachten heißt. Der Sachverständige kommt zum Schluss, dass der Schuss auf einer Entfernung von mindestens eineinhalb Metern abgegeben wurde, wobei Wieser davon ausgeht, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Schussabgabe am Boden lag, seinen rechten Arm abwehrend hob und der vor ihm stehende Schütze schräg nach unten feuerte.

Keine Anhaltspunkte

Am Gewand des Angeklagten, das dieser am Tatort trug, konnten keine Schmauchspuren gefunden wurden. Das zeigte eine kriminaltechnische Analyse, die ebenfalls erst vom Hauptverhandlungsrichter veranlasst wurde, nachdem die Staatsanwaltschaft das offenbar für nicht nötig befunden hatte. Daraufhin vorgenommene Versuche mit der sichergestellten Pistole ergaben "auch bei unterschiedlichen Waffenhaltungen und Anschlagsarten eine signifikante Beschmauchung von charakteristischen Schusspartikeln auf den Händen und am Gewand des Schützen", wie Wieser in seinem schriftlichen Gutachten festhält. Sein Fazit: "Falls der Angeklagte das untersuchte Gewand bei der Tat getragen hat, konnten keine sicheren Anhaltspunkte für eine Schussabgabe nachgewiesen werden."

Der 28-Jährige war von einem Bekannten unmittelbar nach dem tödlichen Schuss in eine ein paar 100 Meter entfernte Polizeiinspektion chauffiert worden, wo er sich stellte. Es ist davon auszugehen, dass er weder Zeit noch Gelegenheit hatte, seine zuvor getragene Kleidung zu wechseln. Unmittelbar am Tatort hatten sich neben dem 28-Jährige mehrere andere Männer befunden. Das Geschehen wurde von zwei völlig unbeteiligten Zeugen beobachtet, die in ihren polizeilichen Befragungen die Version des Mordverdächtigen stützten. Allerdings waren beiden 40 bis 50 Meter und damit doch erheblich entfernt, als der Schuss fiel. Und ob sie überhaupt den Angeklagten beim Hantieren mit einer Schusswaffe beobachtet hatten, ist insofern fraglich, als dieser ihnen bisher nicht - etwa im Zuge einer Wahlkonfrontation - zum Zweck einer Identifikation gegenüber gestellt wurde.

Ungewöhnlicher Prozess

Die Verteidiger des Angeklagten, Philipp Wolm und Werner Tomanek, haben mit diesem selbstverständlich das Gutachten des Schießsachverständigen besprochen. "Er hat es zur Kenntnis genommen", meinte Tomanek am Freitag im Gespräch mit der APA. Auf die Fragen, ob das etwas an der Verantwortung des Mannes ändert und ob der 28-Jährige womöglich den tatsächlichen Schützen deckt, verwies Tomanek in Anlehnung an Karl Farkas auf die Verhandlung am Montag: "Kommen Sie, schauen Sie sich das an." Es handle sich mit Sicherheit "um einen der ungewöhnlichsten Prozesse, in dem ich je vertreten habe". Normalerweise hätten Gerichte "ja Täter zu überführen, die sagen, dass sie's nicht waren. Hier habe ich einen angeblichen Täter, der sich freiwillig stellt und wo sich dann herausstellt, dass er es wahrscheinlich nicht war."

Dass die Anklagebehörde in diesem Fall von Mord ausgeht, "ohne ordentlich ermittelt zu haben", ist für Tomanek schwer zu fassen. "Bei viel problematischeren Fallkonstellationen, etwa bei polizeilichem Waffengebrauch, wäre man bei so einer Beweislage nie auf die Idee gekommen, eine Anklage wegen Mordes zu erheben. Da hätte man wahrscheinlich einen Strafantrag wegen fahrlässiger Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen eingebracht", bemerkte Tomanek.

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