Vor Mord: 14-Jährige hatte Anzeige widerrufen
Die am 18. September 2017 in Wien-Favoriten erstochene 14-Jährige - der ältere Bruder des Mädchens sitzt wegen Mordverdachts in U-Haft - hat den 18-Jährigen sowie den eigenen Vater rund zweieinhalb Monate vor ihrem Tod wegen fortgesetzter Gewaltausübung angezeigt. Das Verfahren musste allerdings eingestellt werden.
Das Mädchen war bereits Ende Juni von zu Hause geflüchtet, nachdem es dort wiederholt zu Handgreiflichkeiten gekommen sein soll. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Wien, Thomas Vecsey, bestätigte am Freitag entsprechende Informationen. Die aus Afghanistan stammenden Eltern waren vor über zehn Jahren nach Österreich gekommen. Bei der Erziehung ihrer Kinder orientierten sie sich an der traditionellen, in ihrer ursprünglichen Heimat gültigen Lebensweise und den Glaubensregeln des Koran. Zuletzt waren sechs Kinder an der Adresse des Paares gemeldet. Zwei weitere Töchter sollen sich in Pakistan befinden - angeblich wurden sie dorthin verheiratet.
Mädchen flüchtete in Krisenzentrum
Die 14-Jährige dürfte sich zu Hause eingeengt gefühlt haben und zusehends unter Druck gesetzt worden sein, weil sie sich gegen die elterlichen Vorgaben auflehnte. Sie durfte beispielsweise die Wohnung nur in Begleitung verlassen. Weil sie auch geschlagen worden sein soll, flüchtete sie schließlich nach Graz, wo sie sich in ein Krisenzentrum begab. In Graz erstattete sie Anzeige gegen den Vater und den 18-jährigen Bruder.
Die U-Haft über den nunmehr mordverdächtigen 18-Jährigen - er soll seine Schwester mit zumindest 13 Messerstichen in einem Innenhof in der Puchsbaumgasse getötet haben - ist vom Landesgericht vor wenigen Tagen bis Anfang November verlängert worden. Ob und inwieweit der Vater oder andere Familienmitglieder in die Bluttat verwickelt waren bzw. davon wussten, ist Gegenstand der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen.
14-Jährige widerrief Vorwürfe gegen Familie
Die 14-Jährige wurde nach ihrer Rückkehr aus Graz in einem Krisenzentrum des Wiener Jugendamts untergebracht. Dort habe sie schließlich die Vorwürfe gegen ihre Familie widerrufen und behauptet, sie habe "das nur so gesagt", wie Behördensprecherin Herta Staffa erläuterte. Das Mädchen sei schließlich ohne Absprache nach Hause zurückgekehrt.
Die Staatsanwalt habe dann nachgefragt, ob die 14-Jährige sich noch im Krisenzentrum befinde, berichtete die Sprecherin. Das sei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr der Fall gewesen. Informationen zu einem Termin bei der Anklagebehörde habe das Jugendamt nicht gehabt. Die Obsorge lag nur so lange beim Jugendamt, als sich das Mädchen im Krisenzentrum befand, erläuterte Staffa.
Auch bei ihrem zweiten Aufenthalt im Krisenzentrum habe die 14-Jährige erklärt, sie werde nicht bedroht. Dorthin war das Mädchen wenige Tage vor seinem gewaltsamen Tod zurückgekehrt.
So unverständlich ein Ehrenmord für einen Europäer sein mag, mit dem entsprechenden kulturellen und moralischen Hintergrund sei es nichts "Schlimmes", erläuterte der Psychologe Cornel Binder-Krieglstein. Schande für die Familie versus den Erhalt des Lebens sei im Westen eine klare Sache, moralisch und durch Gesetze eindeutig geregelt. Mit einem anderen Background sehe das anders aus.
"Mit seinem kulturellen Hintergrund will er die Familie retten und beschützen - und tut nichts Schlimmes", sagte der Experte. Wenn man etwa durch den Diebstahl eines Baggers ein verschüttetes Kind aus den Sandmassen retten könne, sei das Leben des Kindes ein höheres Gut als der Diebstahl. Entsprechend sei dann die Ehre der Familie ein höheres Gut als das Leben der Schwester oder sogar das eigene, da man sich der drohenden Strafe auch bewusst sei.
Dass bei Ehrenmorden des öfteren die jüngeren Brüder als Täter auftreten, könne laut dem Psychologen verschiedene Gründe haben: Dass etwa der Familienrat den untersten in der Hierarchie dazu bestimmt, aber auch dass der Jüngste eine niedrigere Strafe zu erwarten hat. Denkbar sei aber auch, dass es als "Ehre" gesehen wird, die Bluttat zu verüben.
Laut Binder-Krieglstein stelle sich die Frage, wie Integration verlaufen kann: "Dies kann nur funktionieren, wenn die moralischen Gegebenheiten des Landes übernommen und beachtet werden und man dies auch aus Überzeugung lebt." Äußerlichkeiten seien dabei nicht so wichtig, auch in die USA ausgewanderte Österreicher hätten gerne Apfelstrudel als Erinnerung an das frühere Leben genossen. Doch wie sieht es innerlich aus? Identifiziert man sich mit dem Land oder lebt man in einer Blase mit dem Ziel, sich nicht integrieren zu wollen oder zu können, fragte der Psychologe.
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