"Die meisten Muslime haben wenig Ahnung von ihrer eigenen Religion"

Der islamische Gefängnisseelsorger Ramazan Demir in der Justizanstalt Josefstadt. Wien, 20.02.2015.
Der Kampf gegen Radikalisierung unter Häftlingen ist nur ein ehrenamtlicher Nebenjob.

Jeder vierte bis fünfte Insasse in den mit derzeit 9000 Häftlingen überfüllten österreichischen Gefängnissen ist Muslime. Allein in der Justizanstalt Wien-Josefstadt sind 300 von 1150 Gefangenen islamischen Glaubens. Von der Religionsausübung, die viele erst hier entdecken, über das Essen bis zur Gefahr von Radikalisierung sind sie für den Strafvollzug eine Herausforderung.

Aus Sicherheitsgründen dürfen an dem im Koran vorgeschrieben Freitagsgebet in der Anstaltsmoschee jeweils höchstens 35 Insassen teilnehmen. Jeden Freitag kommen andere 35 Häftlinge an die Reihe. Einer darf nie daran teilnehmen, weil die Gefahr besteht, dass er Mitinsassen mit seinem Gedankengut infiziert: Der 20-jährige Tschetschene Sergo P., kürzlich wegen Unterstützung des Islamischen Staates (IS) nicht rechtskräftig zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er ist bereits durch Missionierungsversuche von Mithäftlingen aufgefallen und hat – wie berichtet – einen bis dahin katholischen Zellengenossen "bekehrt", zum Islam zu konvertieren. Seither sitzt er in Einzelhaft.

Zeitmangel

Imam Ramazan Demir ist islamischer Seelsorger in der Josefstadt. Die überwiegend friedliche Mehrheit der muslimischen Insassen vor Radikalisierung zu schützen, gehört zu seinen Aufgaben. Wenn ein mutmaßlicher Dschihadist in die Haftanstalt kommt, knöpft er sich diesen wohl gleich vor, könnte man denken. "Keine Zeit", sagt Demir. Er ist hauptberuflich islamischer Religionslehrer im Gymnasium Brigittenau und nur ehrenamtlich Gefängnis-Seelsorger. Mehr als zwei bis drei Stunden pro Woche in der Josefstadt gehen sich nicht aus.

Aber ist die Betreuungsarbeit mit radikalen Insassen, die andere "umdrehen" könnten, nicht dringender? "Wenn sich einer das Leben nehmen möchte, ist das nicht dringend?", fragt der Imam zurück: "Ich habe erst vor ein paar Monaten einen jungen Ägypter verloren."

Seelsorge ist ein Menschenrecht. Der Staat finanziert katholische Seelsorger, er finanziert auch islamische Religionslehrer, aber keine islamischen Gefängnis-Seelsorger. Demir kann neben seinem Hauptberuf nur sechs bis sieben Insassen im Monat einzeln betreuen. Einer hat ihm gesagt, er würde ihm – dem Imam – am liebsten ins Gesicht spucken, weil er ihn so lange nicht besucht habe. "Wenn ich dann an seiner Zelle vorbeigehe und wieder keine Zeit für ihn habe, schäme ich mich", sagt Demir.

Was kann er überhaupt leisten im Gefängnis? "Zuhören, das entlastet die Leute schon sehr. Und niemals am Anfang sagen: ‚Was du getan hast, war schlecht.‘ Er soll selbst draufkommen, was falsch war." Zweiter Punkt: Aufklärung. "Die meisten Muslime haben wenig Ahnung von ihrer eigenen Religion." Sie sind, überhaupt in der abgeschiedenen Gefängniswelt, empfänglich für die falschen Botschaften radikaler Mithäftlinge.

Für seine Masterarbeit hat Demir junge muslimische Häftlinge interviewt und festgestellt, dass die Religion in vielen Fällen erst im Gefängnis an Bedeutung gewinnt. "Wenn einer zu uns kommen würde und uns ein bisschen zum Islam aufklärt, also das wäre schon eine große Rolle", sagt einer. Und ein anderer: "Im Gefängnis wäre gut, dass man mit dem Islam in Verbindung kommt."

14-Jähriger frei

38 Personen sitzen derzeit wegen Unterstützung des IS-Terrorregimes im Gefängnis, neun davon in U-Haft. Der 14-jährige Schüler, der darüber fantasiert hatte, als Eintritt in den "Heiligen Krieg" den Wiener Westbahnhof in die Luft zu sprengen, wurde bereits entlassen. Er war im Landesgericht St. Pölten (nicht rechtskräftig) zu zwei Jahren, davon acht Monate unbedingt, verurteilt worden. Der Bewährungshilfe-Verein Neustart betreut den Burschen. Er geht wieder zur Schule, pflegt mit seiner Mutter einen "erwachsenen Umgang" und entwickelt sich weg vom Radikalismus, wie es heißt.

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